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Vorhang auf für eine Leiche

Vorhang auf für eine Leiche

Titel: Vorhang auf für eine Leiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
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bringen.«
     
    Ich schmetterte voller Inbrunst das alte Weihnachtslied »Stechpalme und Efeu« über den Wettstreit der beiden Gewächse und scherte mich nicht darum, dass ich ein bisschen schief sang.
    »Giftig sind sie beide,
Wie ein jeder weiß.
Der Stechpalme aber
Gebührt der erste Preis.«
    Wahrscheinlich deshalb, dachte ich, weil die Beeren und Blätter der Stechpalmen, auch »Ilex« genannt, Theobromin enthalten, das bittere Alkaloid, das man auch in Kaffee, Tee und Kakao findet und das zuerst von dem unsterblichen deutschen Chemiker Hermann Emil Fischer aus menschlichen Ausscheidungen synthetisiert wurde. Das Theobromin in den Beeren und Blättern der Stechpalme war nur eines der cyanogenen Glucoside, die, wenn man sie kaute, Zyanwasserstoff oder Blausäure freigaben. Ich musste erst noch herausfinden, in welchen Mengen, aber allein bei dem Gedanken an derlei herrliche Experimente stellten sich die Härchen an meinen Unterarmen vor lauter Vorfreude auf.
    »Du denkst an das Ilicin«, sagte Dogger.
    »Stimmt. In den Stechpalmenblättern befindet sich ein Alkaloid, das Durchfall verursacht.«
    »Ich glaube, das habe ich auch schon mal irgendwo gelesen.«
    Ich konnte die Stechpalmenzweige verwenden, aus denen ich eigentlich Vogelleim herstellen wollte!
    »Morgen, Kinder, wird’s was geben … «, trällerte ich und sprang die Treppe hinauf, wobei mir mehr als nur die Gefangennahme des Weihnachtsmanns im Kopf herumspukte.
     
    Schwere, nasse Flocken fielen senkrecht am erleuchteten Fenster meines Labors vorbei, keine zwei davon gleich, obwohl sie doch alle zur selben Familie gehörten.
    Im Falle der Schneeflocken lautete der Familienname H 2 O, bei Nichteingeweihten auch unter dem Namen Wasser bekannt.
    Wie alle Materie kann Wasser in drei Aggregatzuständen vorkommen. Üblicherweise ist es eine Flüssigkeit. Erhitzt auf 100 Grad Celsius, verwandelt es sich in ein Gas, kühlt man es auf unter null Grad herunter, kristallisiert es und wird zu Eis.
    Ich bevorzugte den dritten Zustand. Gefrorenes Wasser zählt zu den Mineralien – ein Mineral, dessen kristalline Form, beispielsweise als Eisberg, in der Lage war, einen Diamanten zu imitieren, der so groß wie die Queen Elizabeth war.
    Fügt man ein wenig Wärme hinzu, schon hat man – Abrakadabra! – wieder eine Flüssigkeit, die ohne Weiteres und allein mithilfe der Schwerkraft an die geheimsten Orte fließen kann. Ich brauche nur an einige der unterirdischen Stellen zu denken, an die das Wasser schon vorgedrungen ist, schon kribbelt es mich im Magen!
    Erhöht man die Temperatur weit genug, schon bist du – Simsalabim! – ein Gas und kannst davonfliegen.
    Wenn das keine Zauberei ist, dann weiß ich auch nicht!
    Hyposalpetrige Säure beispielsweise ist absolut faszinierend. Oder Distickstofftetroxid: Das Molekül schmilzt bei -11°, bei Temperaturen oberhalb von 1° wird es gelb, dann orange und fängt bei 21° an zu sieden und bildet rotbraunen Dampf. Unglaublich, was sich da alles auf einer Skala von gut 30 Grad abspielt!
    Aber um auf meinen alten Freund, das Wasser, zurückzukommen: Ganz gleich wie heiß oder wie kalt, ganz gleich in welcher Gestalt, in welchem Zustand, von welcher Qualität oder Farbe – immer besteht jedes Wassermolekül aus einem einzigen Sauerstoffatom, das sich mit zwei Wasserstoffatomen verschwistert hat. Diese drei Atome zusammen können einen Schneesturm – übrigens auch ein Gewitter – entfesseln … oder aber sie zaubern ein weißes Wattewölkchen an den blauen Sommerhimmel.
    O Herr, wie vielfältig ist doch deine Schöpfung!
     
    Später im Bett löschte ich das Licht und lauschte noch eine Weile auf die fernen Geräusche der geschäftigen Menschen, die die allerletzten Dinge für den kommenden Morgen vorbereiteten. Irgendwo im Westflügel wurden wahrscheinlich noch die Scheinwerfer eingerichtet, irgendwo saß Phyllis Wyvern und büffelte ihren Text.
    Doch schließlich und endlich war das Tagewerk vollbracht, und Buckshaw schlummerte ein, begleitet von einem letzten widerwilligen Knarren und Ächzen. Der Schnee fiel lautlos.

6
    D as Kratzen einer Schaufel weckte mich. Verflixt aber auch! Ich musste verschlafen haben!
    Ich sprang unter meiner Daunenzudecke hervor und zog mich rasch an, bevor ich erfrieren konnte.
    Die Welt vor meinem Fenster glich einem schlecht entwickelten Schnappschuss: ein kränkliches Schwarz-Weiß, unter dem ein bedrohlicher purpurner Hauch schimmerte, als würde der Himmel grummeln: »Warte

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