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Vorhang auf für eine Leiche

Vorhang auf für eine Leiche

Titel: Vorhang auf für eine Leiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
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requiriert hatte, der ihnen den Weg vom Ort bis hierher freigeschoben hatte.
    Abgesehen von dem bläulichen Band der freigepflügten Spur, die sich nach Norden davonschlängelte, lagen alle Straßen und Wege von und nach Buckshaw unter einem unberührten weißen Laken.
    Auf der Südseite des Daches, mit dem Rücken zum Wind, war es kaum weniger kalt als im Norden. Unter mir, neben dem Küchengarten, standen die schneebedeckten Fahrzeuge von Ilium Films , dicht aneinandergedrängt wie die Wagen eines kleinen Zirkus im Winterquartier. Zwischen ihnen waren schmale Trampelpfade getreten. Ein Mann in Livree kam aus der Küchentür und stapfte schlitternd zu einem der kleineren Lieferwagen. Es war Anthony, Phyllis Wyverns Chauffeur. Ihn hatte ich völlig vergessen.
    Ich beugte mich so weit es ging über die niedere Brustwehr und spähte an der Hauswand hinunter. Der Kühler des schwarzen Daimler war gerade noch zu erkennen. Der Wagen stand neben einem verschneiten Blumenbeet. Als ich mich noch weiter vorbeugte, um zu sehen, ob jemand darin saß, löste sich unter meiner Hand ein Schneeklumpen und landete mit einem dumpfen Wumpf auf dem Dach des Daimlers.
    »Scheiße!«, entfuhr es mir, wenn auch gedämpft.
    Anthony blieb sofort stehen, drehte sich um, schaute nach oben und sah mich. Es folgte einer jener besonderen Momente, in denen sich die Blicke zweier völlig Fremder treffen, die zu weit weg voneinander sind, um miteinander zu sprechen, aber zu nah, um so zu tun, als sei nichts geschehen. Was konnte ich unter diesen Umständen am besten hinunterrufen? Sollte ich ihm mein Beileid ausdrücken oder ihm lieber fröhliche Weihnachten wünschen? Aber da wandte er sich plötzlich ab und schlitterte weiter.
    Diese Reitstiefel aus Leder müssen im Schnee ziemlich tückisch sein, dachte ich.
    Ich verließ das Dach, aber vorher hob ich noch einmal den Blick zu den hoch aufragenden Schornsteinaufsätzen und Blitzableitern von Buckshaw, die in Reih und Glied wie Orgelpfeifen aus Backstein, Eisen und Ton aus ihren wuchtigen Sockeln ragten. Die Schornsteine der Küche und des Nordsowie des Westflügels sandten vom Wind zerrissene Rauchfetzen in den bleiernen Himmel.
    Mit einem wohligen Schauder – halb freudig, halb ängstlich – dachte ich daran, dass ich diese zerklüfteten Gipfel noch vor Ende der Nacht erklimmen würde. Schließlich hatte ich noch eine Verabredung mit dem Weihnachtsmann – ein Experiment, dessen Ergebnis sehr wohl über den künftigen Verlauf meines Lebens entscheiden konnte.
    Würde die Chemie Weihnachten den Garaus machen? Oder würde ich morgen früh einen wütenden dicken Mann vorfinden, der zwischen den Schornsteinaufsätzen festklebte?
    Ich gebe zu, dass ich im Grunde meines Herzens auf die Legende hoffte.
    Manchmal kam es mir vor, als stünde ich breitbeinig über einem Ozean – mit einem Fuß in der Neuen Welt und einem in der Alten. Während die beiden Welten unbarmherzig auseinandergetrieben wurden, lief ich Gefahr, in der Mitte entzweigerissen zu werden.
     
    Bei den Menschenmassen in der Eingangshalle machte sich allmählich Erschöpfung breit. Die Dorfbewohner saßen nun schon fast vierundzwanzig Stunden hier fest, und man sah deutlich, dass es mit ihrer Geduld allmählich zu Ende ging.
    Wo ich auch hinschaute, sah ich Augenringe und müde Gesichter, und die Luft in den überfüllten Schlafquartieren war dick und abgestanden.
    Mir war schon bei anderen Gelegenheiten aufgefallen, dass man sich unter vielen Menschen nach kurzer Zeit wie jemand ganz anderer vorkommt. Wenn man den Atem anderer Menschen einatmen muss und die umherwirbelnden Atome der anderen sich mit eigenen vermengen, übernimmt man vielleicht auch einen gewissen Anteil ihrer Persönlichkeit, so wie die Kristalle in einer Schneeflocke sich miteinander verbinden. Vielleicht gewinnt dann unsere eigene Persönlichkeit etwas hinzu, im gleichen Maße, in dem sie auch etwas verliert.
    Bei nächster Gelegenheit musste ich diese spannende Beobachtung unbedingt schriftlich festhalten.
    Die Leute, die auf dem harten Fliesenboden genächtigt hatten, rieben sich die schmerzenden Gliedmaßen und bedachten die Glücklicheren, die sich mit dem Rücken an die Wand lehnen konnten, mit neidischen Blicken. Maximilian Brock hatte eine Mauer aus Büchern um sein Fleckchen Fliesen errichtet. Wo er die wohl alle herhatte? Anscheinend hatte er mitten in der Nacht die Bibliothek geplündert.
    Hatten sich die friedlichen Dorfbewohner von Bishop’s Lacey

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