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Vorhang auf für eine Leiche

Vorhang auf für eine Leiche

Titel: Vorhang auf für eine Leiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
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nach.«
    Er ließ den Kugelschreiber über der Seite schweben.
    »Das ist aber wichtig«, sagte er. »Sozusagen entscheidend.«
    »Wie lange dauert die Balkonszene von Romeo und Julia? «, fragte ich.
    Er machte ein verdutztes Gesicht.
    »Im Garten der Capulets? Hmmm … Nicht länger als zehn Minuten, würde ich sagen.«
    »Es hat aber länger gedauert. Sie haben später angefangen, und dann …«
    »Ja?«
    »Dann war da ja noch die Sache mit Gil Crawford.«
    Ich war davon ausgegangen, dass ihm inzwischen jemand davon erzählt hatte, aber so, wie er den Kugelschreiber fester packte, war dem anscheinend nicht so.
    »Erzähl es mir mit deinen eigenen Worten«, sagte er, und das tat ich auch: Ich berichtete ihm von dem ausbleibenden Scheinwerferlicht, das Phyllis Wyvern bei ihrem ersten Auftritt anstrahlen sollte … wie sie von ihrem provisorischen Balkon herunterkam … wie sie zum Gerüst hinüberschritt … wie sie in die Dunkelheit hinaufkletterte … und von der heftigen Ohrfeige, die sie Gil Crawford verpasst hatte.
    Es kam förmlich aus mir herausgesprudelt, und ich wunderte mich selbst über die Wut, die sich in mir aufgestaut hatte. Als ich fertig war, hätte ich fast geheult.
    »Sehr ergreifend«, meinte der Inspektor. »Wie hast du darauf reagiert – zu jenem Zeitpunkt, meine ich?«
    Meine Antwort schockierte mich selbst.
    »Ich hätte sie am liebsten umgebracht.«
    Wir saßen uns vielleicht zehn Sekunden lang schweigend gegenüber, aber diese Sekunden dauerten eine halbe Ewigkeit.
    »Schreiben Sie das jetzt auch in Ihr Notizbuch?«, fragte ich schließlich.
    »Nein«, antwortete er in ungewöhnlich sanftem Ton. »Das war eher eine persönliche Frage gewesen.«
    Eine solche Gelegenheit durfte ich mir natürlich nicht entgehen lassen. Endlich bot sich die Möglichkeit, die Gewissensbisse zu lindern, die mich seit jenem schrecklichen Tag im Oktober plagten.
    »Es tut mir schrecklich leid! Ich wollte nicht … Antigone  … Ihre Frau …«
    Er klappte das Notizbuch zu.
    »Flavia …«, sagte er.
    »Es war abscheulich von mir. Ich habe nicht nachgedacht, bevor ich den Mund aufgemacht habe. Antigone – Mrs Hewitt, meine ich – muss furchtbar von mir enttäuscht gewesen sein.«
    Meine eigene Stimme hallte mir noch in den Ohren: »Warum haben Sie und Inspektor Hewitt eigentlich keine Kinder? Mit dem Gehalt des Inspektors könnten Sie sich doch bestimmt welche leisten.«
    Ich hatte es nicht ernst gemeint – fast als Scherz.
    Antigones Anwesenheit und vielleicht auch ihre Schönheit hatten mich beflügelt und leichtsinnig gemacht, vielleicht war auch die Chemie in Gestalt der viel zu vielen, viel zu zuckrigen Kuchenstücke daran beteiligt gewesen. Ich hatte mich wie ein Vielfraß aufgeführt.
    Ich hatte auf dem Sofa gesessen und Antigone auffordernd angeschaut, wie ein schnöseliger Dandy aus London, der einen grandiosen Witz gerissen hat und jetzt abwartet, ob ihn die anderen auch kapieren.
    »Mit dem Gehalt des Inspektors könnten Sie sich doch bestimmt welche leisten.«
    Ich hätte es fast noch einmal gesagt.
    »Wir haben drei Kinder verloren«, hatte Antigone Hewitt mit grenzenlosem Schmerz in der Stimme erwidert und nach der Hand ihres Mannes gegriffen.
    »Ich muss jetzt gehen«, hatte ich unvermittelt verkündet, als stünden mir in der englischen Sprache plötzlich keine anderen Worte mehr zu Gebote.
    Der Inspektor hatte mich in meinem selbst gewählten Schweigen zurück nach Buckshaw gefahren, und ich war dort ohne ein Wort des Dankes aus dem Wagen gesprungen.
    »Eher traurig als enttäuscht«, holte er mich in die Gegenwart zurück. »Wir haben das alles nicht so gut wie andere betroffene Paare überstanden.«
    »Bestimmt hasst sie mich jetzt.«
    »Nein. Hass ist etwas für den, der hassen will.«
    Ich verstand, was er meinte, hätte es aber nicht erklären können.
    »So wie der- oder diejenige, der Phyllis Wyvern umgebracht hat«, sagte ich versuchshalber.
    »Ganz genau«, antwortete er nach einer kleinen Pause. »Also, wo waren wir stehen geblieben?«
    »Bei Gil Crawford. Und anschließend hat sie einfach weitergespielt, als wäre überhaupt nichts gewesen.«
    »Das müsste dann ungefähr fünf vor halb acht gewesen sein?«
    »Ja.«
    Der Inspektor kratzte sich am Ohr.
    »Das ist schon ein bisschen seltsam, findest du nicht auch? Ein ganzes Dorf bei derartig unerfreulichen Wetterverhältnissen für eine zehnminütige Aufführung zusammenzutrommeln?«
    »Phyllis Wyvern war nur der

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