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Vorhang auf für eine Leiche

Vorhang auf für eine Leiche

Titel: Vorhang auf für eine Leiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
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etwa über Nacht in wilde Raubkatzen verwandelt, die ihr Revier mit Zähnen und Klauen verteidigten? Wenn man sie noch länger auf diesem engen Raum zusammensperrte, würden sie wahrscheinlich schon bald Schrebergärten abstecken und Gemüsebeete anlegen.
    Vielleicht hatte Tante Felicity doch nicht ganz unrecht. Jeder Einzelne von ihnen, egal ob Mann oder Frau, sah aus, als könnte er einen strammen Spaziergang an der frischen Luft vertragen. Plötzlich war ich froh, dass ich, wenn auch nur für ein paar Minuten, aufs Dach geklettert war.
    Oder hatte ich damit gegen ein polizeiliches Verbot verstoßen?
    Ich selbst hatte es zwar nicht mit eigenen Ohren gehört, aber Inspektor Hewitt hatte garantiert angeordnet, dass niemand das Haus verlassen durfte. Das war die Standardprozedur bei Fällen, in denen Mord nicht ausgeschlossen war, und Phyllis Wyvern war weder auf natürliche Weise noch durch Selbstmord gestorben – jemand hatte sie gewaltsam vom Leben zum Tod befördert.
    Und was war mit Anthony, ihrem Chauffeur? War der nicht vorhin auch ungehindert draußen herumspaziert? Und die Schneeschaufler im Vorhof? Widersetzte sich der Vikar mit seiner Truppe damit nicht den Anordnungen des Gesetzes? Das kam mir recht unwahrscheinlich vor. Bestimmt hatte er vorher um Erlaubnis gebeten. Vielleicht hatte der Inspektor sogar selbst verlangt, dass der Hof freigeschaufelt wurde.
    Ich war immer noch mit derlei Gedanken beschäftigt, als die Haustür aufging und die Schaufler stampfend und naseschnäuzend hereinkamen. Mir fiel nicht gleich auf, dass einer fehlte.
    »Wo ist der Vikar, Dieter?«
    »Weg.« Dieter verzog das Gesicht. »Er und Frau Richardson haben sich zu Fuß auf den Weg ins Dorf gemacht.«
    Ich traute meinen Ohren kaum, blickte mich rasch um und stellte fest, dass Cynthia Richardson tatsächlich nirgendwo zu sehen war.
    »Sie haben darauf bestanden«, sagte Dieter. »Der Weihnachtsgottesdienst fängt in ein paar Stunden an.«
    »So ein Unsinn! Die halbe Gemeinde ist doch hier.«
    »Aber die andere Hälfte ist in Bishop’s Lacey.« Dieter warf hilflos die Arme in die Luft. »Einem Geistlichen der englischen Kirche kann man keine Vernunft predigen.«
    »Wenn der Inspektor das hört, kriegt er einen Anfall«, sagte ich.
    »Ach ja?«, kam es von jemandem hinter mir.
    Es war natürlich Inspektor Hewitt. Neben ihm stand Detective Sergeant Graves.
    »Warum sollte ich denn einen Anfall kriegen?«
    Ich suchte fieberhaft nach Ausflüchten, aber es hatte keinen Zweck. »Der Vikar und seine Frau sind nach St. Tankred aufgebrochen. Wegen Weihnachten.«
    Das war schließlich die Wahrheit, und da es ja wohl kaum ein Staatsgeheimnis war, konnte mich niemand als Plappermaul hinstellen.
    »Wie lange ist das her?«, erkundigte sich der Inspektor.
    »Nicht lange, glaube ich. Nicht länger als fünf Minuten. Dieter kann es Ihnen genau sagen.«
    »Die beiden müssen sofort zurückgeholt werden. Sergeant Graves?«
    »Jawohl!«
    »Sehen Sie zu, dass Sie den Vikar einholen. Er und seine Frau haben zwar einen kleinen Vorsprung, aber dafür sind Sie ein ganzes Stück jünger und besser in Form.«
    »Sehr wohl, Herr Inspektor!« Sergeant Graves grinste verlegen wie ein Schuljunge und bekam plötzlich Grübchen.
    »Sagen Sie den beiden, dass wir uns alle Mühe geben, die Sache aufzuklären, dass aber bis dahin niemand meine Anweisungen umgehen darf.«
    Klug ausgedrückt, dachte ich: Mitgefühl mit einem kleinen Giftstachel.
    »Und nun, Fräulein de Luce«, sagte der Inspektor, »fangen wir wohl am besten mit dir an, falls du nichts dagegen hast.«
    »Die jüngsten Zeugen zuerst?«, fragte ich entgegenkommend.
    »Nicht unbedingt«, lautete Inspektor Hewitts Antwort.

14
    Z u meiner Verwunderung schlug der Inspektor vor, dass die Befragung in meinem Chemielabor stattfinden solle.
    »Dort dürften wir ungestört sein«, meinte er.
    Es war nicht sein erster Besuch in meinem sanctum sanctorum: Schon zu Zeiten der Horace-Bonepenny-Affäre hatte er mein Allerheiligstes betreten und das Labor »ganz außerordentlich« genannt.
    Diesmal gönnte er Yorick, dem beweglichen Skelett, das Onkel Tar von dem Naturforscher Frank Buckland geschenkt bekommen hatte, nur einen flüchtigen Blick, setzte sich auf einen hohen Hocker, stellte den Fuß auf eine Querstrebe und holte sein Notizbuch heraus.
    »Wann hast du Miss Wyverns Leiche gefunden?«, kam er ohne langes Vorgeplänkel zur Sache.
    »Ich bin nicht ganz sicher. Um Mitternacht vielleicht, oder Viertel

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