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Vorhang

Vorhang

Titel: Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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– meine Liebe…«
    Ihr einer Arm war verbunden und geschient, den andern streckte sie ihm unsicher entgegen. Er trat einen kleinen Schritt auf sie zu und ergriff ihre zerbrechliche kleine Hand. »Daisy …«, wiederholte er, und dann sagte er mit heiserer Stimme: »Gott sei Dank, du lebst!«
    Ich sah den liebevollen und besorgten Ausdruck in seinen tränenfeuchten Augen und schämte mich unserer makabren Verdächtigungen.
    Leise schlich ich mich aus dem Zimmer. Ein als Unfall getarnter Mord war das nicht! Diese von Herzen kommende Dankbarkeit ließ sich nicht heucheln. Ich fühlte mich unendlich erleichtert.
    Als ich über den Korridor ging, war ich überrascht, das Dröhnen des Gongs zu hören. Dass schon so viel Zeit verstrichen war, hatte ich nicht gemerkt. Der Unfall hatte alles durcheinandergebracht. Nur die Köchin hatte den gewohnten Rhythmus eingehalten und zur üblichen Zeit das Abendessen zubereitet.
    Die meisten von uns hatten sich nicht umgezogen; Colonel Luttrell erschien nicht. Dagegen war Mrs Franklin heute heruntergekommen; sie trug ein zartrosa Abendkleid und machte einen ganz gesunden und munteren Eindruck. Franklin wirkte niedergeschlagen und geistesabwesend.
    Zu meinem Ärger verschwanden Allerton und Judith nach dem Essen im Garten. Ich saß eine Weile herum und hörte Franklin und Norton zu, die sich über Tropenkrankheiten unterhielten. Norton wusste zu dem Thema wenig zu sagen, aber er war ein interessierter Zuhörer.
    In der anderen Ecke des Zimmers saßen Mrs Franklin und Boyd Carrington. Er zeigte ihr einige Vorhang- und Baumwollstoffmuster.
    Elizabeth Cole las in einem Buch, in das sie ganz vertieft zu sein schien. Ich hatte den Eindruck, dass sie mir gegenüber etwas befangen war. Nach ihren offenherzigen Enthüllungen vom Nachmittag war das eigentlich ganz natürlich. Dennoch bedauerte ich es und hoffte, dass sie es nicht bereute, mir so viel verraten zu haben. Ich hätte ihr gern klargemacht, dass ich ihr Vertrauen respektierte und nichts weitererzählen würde. Doch sie gab mir dazu keine Gelegenheit.
    Nach einer Weile ging ich hinaus zu Poirot.
    Ich fand Colonel Luttrell bei ihm, der im Lichtkegel der einzigen Lampe saß, die angeknipst worden war.
    Er redete, und Poirot hörte zu. Der Colonel sprach mehr zu sich selbst als zu seinem Gegenüber.
     
    »Ich erinnere mich noch ganz genau – ja, es war ein Jägerball! Sie trug ein Kleid aus weißem Stoff, ich glaube, Tüll. Er umschwebte sie wie ein Schleier. Ein hübsches Mädchen – ich verlor sofort mein Herz an sie. Das ist das Mädchen, das du heiraten wirst, sagte ich mir. Und tatsächlich, ich schaffte es! Ungeheuer charmante Art, die sie hatte – frech, wissen Sie, schlagfertig. Sie blieb einem keine Antwort schuldig!«
    Er kicherte in sich hinein.
    Ich sah das Bild vor mir: Daisy Luttrell als junges Mädchen, mit ihrer bezaubernden Keckheit, die im Laufe der Jahre zur Zanksucht geworden war.
    Aber es war dieses junge Mädchen, seine erste große Liebe, an die Luttrell heute Abend dachte – seine Daisy.
    Wieder schämte ich mich über das, was wir vor ein paar Stunden gesagt hatten.
    Nachdem Colonel Luttrell schließlich zu Bett gegangen war, erzählte ich die ganze Sache natürlich Poirot.
    Er hörte mir sehr ruhig zu. Seinem Gesichtsausdruck war nichts zu entnehmen.
    »Das war also Ihre Vermutung, Hastings – dass der Schuss seiner Frau gegolten hat?«
    »Ja, und ich schäme mich deswegen – «
    Poirot winkte ab. »Sind Sie selbst auf den Gedanken gekommen, oder hat Sie jemand darauf gebracht?«
    »Allerton hat so etwas gesagt«, antwortete ich gehässig. »Das sieht ihm ähnlich!«
    »Sonst noch jemand?«
    »Boyd Carrington äußerte eine derartige Vermutung.«
    »Ah! Boyd Carrington.«
    »Er ist schließlich ein Mann von Welt und hat Erfahrung.«
    »Oh, gewiss, gewiss. Aber er war nicht Zeuge des Vorfalls?«
    »Nein, er war spazieren gegangen. Ein wenig Bewegung vor dem Essen.«
    »So so!«
    »Ich habe eigentlich gar nicht an die Theorie geglaubt«, meinte ich unbehaglich. »Es war nur – «
    »Sie brauchen sich wegen Ihres Verdachts nicht solche Gewissensbisse zu machen, Hastings«, unterbrach mich Poirot. »Jeder, der die Begleitumstände kannte, hätte auf diesen Gedanken kommen können. O ja, das war ganz natürlich!«
    In Poirots Verhalten lag etwas, das ich nicht so recht verstand – eine gewisse Zurückhaltung. Er beobachtete mich neugierig.
    »Vielleicht«, sagte ich zögernd. »Aber wenn man sieht, wie

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