Vorn
Bürostuhl vor dem Computer immer dem Redakteur überließ und sich selbst auf einen umgedrehten Papierkorb
daneben setzte, das Gespräch oft auf ein Buch, das er gerade gelesen hatte. Sie redeten dann erst ein paar Minuten über Literatur,
in beinahe akademischem Tonfall, und Ludwig schien diese Abschweifungen inmitten des hektischen Redaktionsalltags zu genießen
wie einen kurzen Ausflug in ein früheres Leben.
Später, als Tobias schon fester Redakteur war, bemerkte er, dass Ludwig die Rolle des Wegbereiters im
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auffallend häufig einnahm. Es machte ihm Vergnügen, vielversprechende freie Autoren oder ehemalige |53| Praktikanten näher an das Heft zu binden. »Hast du vielleicht noch eine Viertelstunde Zeit? Lass uns doch draußen einen Kaffee
trinken«, sagte er dann, wenn der andere gerade in der Redaktion zu Besuch war, und es war klar, dass wieder eine Art Bewerbungsgespräch
bevorstand. Ludwig, der selbst fast nie Artikel schrieb (und wenn doch, dann unter tagelangen Qualen), war auch am meisten
daran gelegen, die genaue Ausrichtung des
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- Magazins zu formulieren. Da er häufig Vorträge über die Zeitschrift hielt, vor Schulklassen oder Werbekunden, musste er jederzeit
in prägnanten Worten die Besonderheit des Heftes zusammenfassen können. Er hatte zum
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ohnehin eine tiefere Beziehung als fast alle anderen, war der Einzige in der aktuellen Redaktion, der schon von Beginn an
dabei gewesen war, »von der zweiten Ausgabe an«, wie er manchmal erzählte. Die enge Verbundenheit mit dem Heft hing offenbar
auch mit seiner ungewöhnlichen Biografie zusammen. Als Ludwig beim
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angefangen hatte, war er schon Anfang dreißig gewesen, und von der Zeit davor, seinen Universitätsjahren, sprach er gegenüber
Tobias oder Dennis nur in verlegenen Andeutungen. Nur so viel ließ er durchblicken, dass er als Student, aus einer schwäbischen
Kleinstadt nach München gekommen, offenbar sehr zurückgezogen und ohne großen Bekanntenkreis gelebt habe, als Untermieter
bei einer älteren Frau in einer Bogenhausener Villa. Der Einstieg beim
Vorn
- Magazin sei für ihn dann wie der stark verspätete Beginn seiner Jugend gewesen: »Ich glaube«, sagte Ludwig einmal, »dass ich
die Jahrzehnte verkehrt herum erlebe. Im Studium habe ich die Dreißiger vorweggenommen, und nun |54| hole ich, umgeben von lauter wesentlich jüngeren Leuten, meine Zwanziger nach.« Vielleicht lag es genau an der wichtigen Zäsur,
die das
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- Magazin für ihn selbst bedeutet hatte, dass Ludwig diesen Glücksmoment, dieses Aufgehen in einer neuen Welt nun bei anderen
so gerne selbst herbeiführte. Man konnte förmlich seine Freude spüren, wenn er im Redaktionsflur wieder einmal in ein Gespräch
vertieft war, mit einer freien Autorin, die gerade einen Text vorbeigebracht hatte. Ludwig stellte ihr offenbar ein festes
Angebot in Aussicht, und das Glänzen in ihren Augen, das ein bisschen zu heftige Nicken verriet ihren inneren Jubel, obwohl
sie sich sehr darum bemühte, ruhig zu bleiben, die Euphorie nicht allzu deutlich zu zeigen.
Tobias begeisterte im
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am meisten, dass die Redakteure, im Unterschied zu den Leuten an der Universität, nicht nur durch ein einzelnes Interessensgebiet
miteinander verbunden waren. Genau das war ja eine der ermüdendsten Erfahrungen für ihn gewesen, wenn er nach dem Ende des
Studiums noch manchmal im Oberseminar seines Professors gesessen hatte: dass man dort zwar auf höchstem Reflexionsniveau über
Gedichte und Erzählungen sprach, in dem Moment aber, in dem man den Seminarraum verließ und zum Beispiel entschied, wohin
man noch essen gehen sollte, sich eine eigentümliche Gleichgültigkeit einstellte. Der Professor und seine besten Doktoranden
ließen in der Diskussion keine Banalität des Arguments durchgehen; eine Stunde später aber akzeptierten sie Tütenparmesan
und Joghurtdressing bei jenem Schwabinger Hinterhof-Italiener, in dem Münchner Germanistikseminare immer landeten. Ähnlich |55| war es auch mit dem Kleidungsstil der Studenten. Einige der Doktorandinnen beschäftigten sich in ihren Arbeiten sogar mit
der Theorie der Mode; sie selbst folgten jedoch fast alle demselben spröden Erscheinungsbild avancierter Literaturwissenschaftlerinnen:
kurze, asymmetrische Haarschnitte, Hosenanzüge, interessante Brillen, hohe, schmale Schnürstiefel, die an den Kleidungsstil
der zwanziger Jahre erinnern sollten. In der
Vorn
- Redaktion dagegen
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