Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Vorn

Titel: Vorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bernard
Vom Netzwerk:
ging von vielen Leuten eine allgemeine Weltgewandtheit aus, die sich nicht auf ein Milieu beschränkte. So
     leidenschaftlich, wie die Redakteure eine Platte, einen Film oder einen neuen Roman verteidigten, bestritten sie auch die
     Diskussion, welche Gaststätte in der Münchner Innenstadt akzeptabel war, vor allem in der Zeit, nachdem ihr Lieblingsplatz,
     der Straubinger Hof am Viktualienmarkt, zugemacht hatte. Dass in dem Gebäude dann eine auf alt gemachte bayerische Gaststätte
     eröffnete, mit einer in falschem Dialekt gehaltenen Speisekarte und ungenießbarem Essen, machte sie genauso fassungslos wie
     ein Film von Katja von Garnier.
     
    Über Ludwig lernten Tobias und Dennis in dieser Zeit eine Reihe von Lokalen in der Umgebung der Redaktion kennen; nach der
     Arbeit gingen sie oft zu dritt in die Königsquelle am Deutschen Museum, wo es die besten Wiener Schnitzel Münchens gab, wie
     alle sagten, oder in ein Balkan-Lokal namens Plitvice, gleich neben dem Zeitungshaus, dessen Einrichtung seit den sechziger
     Jahren vollkommen unverändert geblieben war. Besonders häufig landeten sie auch im Rustico, einem etwas heruntergekommenen,
     aber besonders guten |56| italienischen Restaurant. Es lag in einer versteckten Seitenstraße am Sendlinger Tor, neben zwei alten Groschenroman-Antiquariaten,
     in denen die Besitzerinnen noch in gemusterten Arbeitskitteln hinter der Theke standen. Eine Spezialität im Rustico waren
     die Salate, die der Besitzer des Restaurants selber mischte, auf einer Anrichte mitten im Gastraum. Dennis, Tobias und Ludwig
     bestellten meistens den nach ihm benannten »Vincenzo-Salat« mit Avocados und Shrimps, und jeden Abend konnten sie sich sicher
     sein, dass die übertriebene Freundlichkeit bei der Begrüßung, die mit großen Gesten zelebrierte Salatzubereitung irgendwann
     in einen cholerischen Ausbruch umschlagen würde. Sie warteten beim Essen schon immer auf dieses Schauspiel: dass es in der
     Nische vor der Küche zu einem Wortwechsel zwischen Vincenzo und einer der Bedienungen kommen würde, der immer lauter wurde
     und irgendwann mit Geschrei und zugeschlagenen Türen endete. Vincenzo verschwand dann in der Küche, und zwei Minuten später
     kam er wieder in den Gastraum hinein, begrüßte ein paar neue Gäste und tat, als ob nichts gewesen wäre.
     
    Egal, ob es um Bands, Filme, Restaurants oder Modeläden ging: Tobias hatte immer wieder das Gefühl, dass die Leute im
Vorn
sich besser auskannten als alle anderen. Und dieses Wissen wurde natürlich auch dadurch unterstützt, dass die Redakteure dank
     ihrer Position weit vor dem offiziellen Veröffentlichungstermin von neuen CDs, Büchern oder Filmen wussten und daher unter
     bevorzugten Bedingungen lebten. Als Tobias in der Redaktion anfing, kannte er das ganze journalistische |57| System von Rezensionsexemplaren, Pressevorführungen und Gästelistenplätzen noch nicht. Er war auch sehr überrascht, als ihm
     Robert bei einem seiner ersten Besuche im
Vorn
einmal sagte, wie man an CDs gelangte, über die man einen Artikel schrieb oder die man sich einfach besorgen wollte, um auf
     dem Laufenden zu bleiben; dass es auch als freier Autor ausreichte, einfach den zuständigen Pressebeauftragten eines Labels
     anzurufen und ein Rezensionsexemplar einer Platte zu bestellen. Tobias kam sich vor wie ein Betrüger, als er dieses Angebot
     zum ersten Mal in Anspruch nahm und sich ein Vorabexemplar der neuen Pavement-CD nach Hause schicken ließ. Der Labelmitarbeiter
     wollte gar keinen Beweis für seine Zugehörigkeit zu der Zeitschrift; Tobias meldete sich am Telefon einfach mit »Hallo, ich
     bin Tobias Lehnert vom
Vorn
- Magazin«, und es wurde auch nicht nachgefragt, als er nur eine Privatadresse nannte. Zwei Tage später lag ein Päckchen mit
     der CD und einem Informationszettel zur neuen Platte in seinem Briefkasten. Ähnliches Erstaunen löste bei Tobias das Prinzip
     der Gästelisten und Pressevorführungen aus. Robert, der schon viele Jahre als Musikjournalist arbeitete, nahm ihn manchmal
     mit auf Konzerte, die seit langem ausverkauft waren, für die er aber noch tags zuvor durch einen Anruf bei irgendeiner Tournee-Agentur
     zwei Karten bekommen hatte. Er holte den Umschlag mit den Tickets, bedrängt von einer Menge Besucher, die nicht mehr in die
     Halle hineinkamen, in einem Büro neben dem Eingang ab. Zusammen mit Robert und Felix Mertens ging Tobias auch in seine ersten
     Pressevorführungen von Kinofilmen, die meistens

Weitere Kostenlose Bücher