Vorsicht Nachsicht (German Edition)
Er schüttelt ganz leicht den Kopf und greift dann fest nach meinen Beinen. »Ruben, du bist vielleicht kein sprudelnder Quell der Lebensfreude, aber du hast verdammt viele liebenswerte Seiten an dir. Ich entdecke jeden Tag neue.«
Wieder schüttle ich den Kopf. Es ist, als würden seine Worte an einem Panzer von mir abprallen, den ich nicht abnehmen kann. Dabei würde ich ihm so gerne glauben.
»Okay.« Kilian holt geduldig Luft und greift nach meinen Händen. Seine Augen suchen wieder den Blickkontakt mit meinen. »Okay, warum? Wie kommst du darauf, dass du nichts Liebenswertes an dir hast. Ganz offensichtlich stehe ich tierisch auf dich, Torben wacht wie eine Glucke über dich und…« Er knirscht leicht mit den Zähnen. »… soweit ich das abschätzen kann, haben sich in der letzten Woche zwei Typen an dich rangeschmissen.«
»Dieser Kai hatte Mitleid, weil es wohl so ausgesehen hat, als würde ich mich langweilen und Viktor sucht nur nach einem Mittel, um sich an dir zu rächen«, schildere ich ihm die Welt aus meiner Perspektive. Soweit habe ich noch nie jemanden in mich hineinblicken lassen. »Und Torben hat eigentlich auch nur Mitleid und fühlt sich verantwortlich, weil wir verwandt sind.«
»Und wie lautet deine Erklärung für meine Zuneigung dir gegenüber?«, erkundigt sich Kilian verblüfft. »Habe ich auch Mitleid oder könnte es nicht sein, dass ich mich tatsächlich zu dir hingezogen fühle?«
»Keine Ahnung«, nuschle ich leise. »Ich denke, du hast Geschmacksverirrung, wenn du mich anziehend findest.«
Kilians blaue Augen weiten sich und er holt entsetzt Luft. »Ruben! Hast du schon mal in den Spiegel gesehen? Der attraktive, junge Mann, der dich daraus ansieht, bist du! Mit deiner etwas kühlen Art schreckst du vielleicht ein paar Leute ab, aber dir sollte doch aufgefallen sein, wie viele dir nachsehen!«
Verwirrt sehe ich ihn an. Wenn er mich überzeugen will, sollte er nicht so sehr übertreiben. Ich schüttle den Kopf.
»Nein, ich sehe langweilig aus. Wenn überhaupt, dann nur wegen den Haaren. Torbens Verdienst.«
»Wie sind mir diese kolossalen Minderwertigkeitskomplexe bisher nur entgangen?«, erkundigt sich Kilian verblüfft und setzt sich auf den Couchtisch, um mit mir auf einer Augenhöhe zu sein. »Du kannst das echt gut verbergen.«
Na klar, ich gehe damit ja nicht hausieren, was für eine Nullnummer ich bin.
»Was geht in deinem Kopf vor, wenn du kurz zur Seite blickst und dein Mundwinkel so zuckt?«, erkundigt sich Kilian plötzlich. »Du machst das oft.«
»K-keine Ahnung. Mache ich?« Ich fühle mich ertappt.
»Ja, ich frage mich das schon lange. Anfangs dachte ich, du würdest dich über irgendetwas lustig machen«, gesteht Kilian. »Aber das kann nicht sein. Du machst das so oft, wenn ich mich in deinen Augen jedes Mal so dumm benehmen würde, wärst du nicht mehr hier. Also, was hast du gerade gedacht?«
»Dass ich natürlich niemandem sage, dass ich… kein besonders gutes Bild von mir selbst habe.«
»Aha«, murmelt Kilian und schüttelt den Kopf. »Verdammt, was haben deine Eltern mit dir angestellt, dass du so wenig Selbstachtung hast?«
»Nichts«, behaupte ich leise. »Sie waren nur nicht oft da.«
»Wohl eher nie da.« Kilian runzelt die Stirn. »Als du dich mit den Ratten in den Keller eingesperrt hast, als du zu spät von dem See nach Hause gekommen bist, als du dich verbotenerweise auf den Dachboden deiner Oma geschlichen hast. Sie waren nie da, stimmt’s? Sie haben dich sogar rausgeschmissen, als ihnen das mit dem Schwulsein nicht gepasst hat.« Er sieht mich so durchdringend an, dass ich seinem Blick wieder ausweichen muss. »Oh Gott, das erklärt so viel, was ich nicht verstanden habe.« Seine Hände drücken meine sanft. »Aber es muss doch vor mir Männer gegeben haben, die dich gemocht haben. Ich meine, du warst nicht total erfahren, aber garantiert keine Jungfrau mehr.«
»Da war niemand, der wirklich zählt«, gestehe ich.
»Du hast gesagt, fünf. Fünf Typen, die auf dich standen und du denkst, du wärst nicht liebenswert?«
»Fünf Typen, die einmal mit mir geschlafen haben und dann genug von mir hatten«, korrigiere ich ihn schlicht.
»Idioten«, brummt Kilian verächtlich. Dabei hätte er doch anfangs noch gerne zu ihnen gezählt. Er wollte doch auch nur Sex haben, um mich zu vergessen.
»Da, schon wieder. Was hast du gerade gedacht?«, will er wissen.
Ich sehe ihn verdutzt an.
»Dein Mundwinkel, Ruben, er hat gezuckt.«
Oh Mann.
Weitere Kostenlose Bücher