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Vortex: Roman (German Edition)

Vortex: Roman (German Edition)

Titel: Vortex: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Charles Wilson
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Stück jenseits der Gefahrengrenze – und nichts war passiert.
    Die Nacht brach herein, die Temperatur fiel. Wir zurrten die Kapuze unserer Spezialmontur fest um die Gesichtsmaske. Der Wind ließ nicht nach, aber das Schneegestöber hörte unversehens auf – und vor uns in der klaren Luft sahen wir schemenhaft die Maschinen der Hypothetischen. Die Techniker beeilten sich, ihre Scheinwerfer auszurichten.
    Wir hatten diese Objekte »Maschinen« genannt, doch am Boden sahen sie eher wie riesige geometrische Festkörper aus. Der nächstgelegene war ein vollkommener Würfel von etwa achthundert Metern Kantenlänge, der sich im Schneckentempo bewegte. Jetzt, wo wir ihm so nahe waren, hatte ich das Gefühl, seine schwerfällige Bewegung unter meinen Füßen zu spüren, ein feiner seismischer Tremor.
    Schweigend näherten wir uns dem gigantischen Objekt; die drei Soldaten der Vorhut schrumpften zu Winzlingen. Das Licht unserer Scheinwerfer kletterte die vertikale Wand empor, eine eintönige Oberfläche, die an Sandstein erinnerte. Die Regelmäßigkeit ließ unwillkürlich an ein absurd großes Gebäude denken, aber eines ohne Fenster und Türen, so rätselhaft wie eine unberührte Pyramide.
    Zunächst staunten wir nur und reckten die Hälse. Dann sagte Oscar, eigentlich müsse man uns längst entdeckt haben. Doch wenn dem so war, fehlte jede sichtbare Reaktion … Nach einer Weile machte sich das wissenschaftlich-technische Team an die Arbeit. Sie setzten die Handscheinwerfer auf Stative; sie packten Sensoren und Aufnahmegeräte aus und verankerten sie im kiesigen, kalten Untergrund. Eine beständig wachsende Zahl greller Lichtbalken machte aus der nächtlichen Wüste ein Patchwork aus Hell und Dunkel.
    Auf der Ebene hinter dem Würfel, über etliche Kilometer verstreut, gab es sechs ähnlich große Objekte, die zwar verschieden, aber ebenso einfach geformt waren: Zylinder, Oktogone, abgeflachte Kugeln und Kegel. Manche hatten die Farbe von Sandstein, wie der Würfel; andere waren schwarz, kobaltblau, obsidianfarben, kadmiumgelb. In jedes der Objekte hätte eine kleine Stadt gepasst, und sie alle krochen im Schneckentempo auf das ferne Gebirge zu – auf das Gebirge und das Meer.
    »Und doch«, sagte Oscar atemlos, »sind diese ungeheuerlichen Objekte nur ein unbedeutender Teil des ganzen Körpers der Hypothetischen.« Das grelle Licht schnitzte Schatten in seine Maske und ließ ihn wie ein furchtsames Tier aussehen, das aus seinem Bau lugte. »Hier lauert die Sünde der Furcht.«
    Und wie sie hier lauerte – hier draußen in der polaren Wüste eines Planeten, der die ersten Menschen hervorgebracht hatte und zum Massengrab weiterer Milliarden Menschen geworden war. Während das wissenschaftlich-technische Team Sensoren und Vermessungsgeräte in Betrieb nahm, ging ich ohne Oscars Erlaubnis (er trippelte hinter mir her) auf ein paar Hundert Meter an den Würfel heran.
    Er war alt. Er war nicht verwittert oder rissig und hätte, nach seinem Aussehen zu urteilen, nur einen Tag oder eine Stunde alt sein können, aber er verströmte Alter – von ihm schien Alter auszugehen wie Kälte von einem Eisfeld. Wenige Zentimeter vor ihm verschwand der dünne Belag aus frisch gefallenem Schnee vom Boden und löste sich in Luft auf.
    »Die Hypothetischen sind unendlich geduldig, Mr. Findley. Sie sind älter als die meisten Sterne am Himmel. Ihren Artefakten so nah zu sein – das ist ein heiliger Moment.«
    Wir trugen alle Headsets. Ich hatte die Lautstärke heruntergedreht – die wenigen voxischen Worte, die ich gelernt hatte, halfen hier nicht viel –, aber horchte auf, als im wissenschaftlich-technischen Team plötzlich ein aufgeregtes Geschnatter losbrach. Zwei Scheinwerferstrahlen schwenkten nach oben.
    Die Strahlen streuten, wie es aussah, an einer bleichen Wolke über dem Würfel. Schnee oder Nebel, dachte ich erst, aber nein – überall sonst war der Himmel klar. Die Wolke schien oben aus dem Würfel zu kommen – auch die anderen, entfernteren Objekte erzeugten ähnliche Wolken, bleiche Schleier, die sanft herunterfielen, obwohl ein Wind wehte, der sie hätte zerstreuen müssen.
    Ich wich instinktiv einen Schritt zurück.
    »Sehen Sie sich das an«, sagte Oscar mit gedämpfter Stimme.
    Auf seinem Arm war etwas gelandet, und er betrachtete es mit Ehrfurcht und Entsetzen. Eine Schneeflocke, dachte ich zuerst. Doch bei näherem Hinsehen war es eher ein winziger, kristalliner Schmetterling: zwei blasse, durchscheinende Flügel,

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