Vortex: Roman (German Edition)
Orrin Mather nicht opfern.«
»Wer redet denn von opfern ? Orrin geht in die State Care. Ist das so schrecklich? Sauberes Wohnen, ein bisschen Aufsicht, nicht mehr im Freien schlafen – das klingt doch ganz ordentlich. Oder glauben Sie nicht an das System, für das Sie arbeiten? Wenn die State Care eine so miese Einrichtung ist, sollten Sie vielleicht Ihre Berufswahl überdenken.«
Ja, vielleicht sollte sie das wirklich. Vielleicht hatte sie das schon. Vielleicht sollte sie sich das alles überhaupt nicht anhören. »Nennen Sie mir einen Grund, warum ich Ihnen glauben soll?«
»Weil ich mir die Mühe gemacht habe, Sie anzurufen. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich drohe Ihnen nicht. Ich will einfach nur ein Geschäft mit Ihnen machen. Leider gibt es keine Garantie – aber ist die Zukunft Ihres Bruders das Risiko nicht wert?«
»Sie sind nur eine Stimme am Telefon.«
»Gut, ich werde jetzt auflegen. Sie müssen nicht Ja oder Nein sagen, Dr. Cole. Ich möchte nur, dass Sie darüber nachdenken. Wenn Sie zu einem befriedigenden Ausgang in dieser Angelegenheit beitragen, werden Sie dafür belohnt. Belassen wir es dabei.«
»Aber ich …«
Klick.
Das alles erzählte sie Bose. Erstaunlich ruhig – oder vielleicht doch nicht so erstaunlich angesichts der zwei Gläser Wein, die sie sich eingeschenkt und leer getrunken hatte, während sie auf ihn gewartet hatte. Ihre Mutter, die in stressigen Momenten immer ein, zwei Drinks zu nehmen pflegte, hatte diese Wirkung »Dutch Courage« genannt. Sandra blickte flüchtig auf das Etikett der Weinflasche: Napa Valley Courage.
»Dieser verdammte Mistkerl!«, sagte Bose.
»Ja.«
»Er muss dir gefolgt sein. Und er hat seine Beziehungen spielen lassen, um herauszufinden, wen du da besucht hast … Wie hieß das noch?«
»Live Oaks Polycar Residential Complex.«
»Wo dein Bruder lebt.«
»Kyle, ja.«
»Du hast mir nicht gesagt, dass du einen Bruder hast.«
»Ja, aber verschwiegen habe ich es dir auch nicht.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Das habe ich auch nicht angenommen. Ist dir irgendetwas aufgefallen da draußen? Ein fremdes Gesicht, vielleicht ein Auto auf der Straße?«
»Nein. Nichts.«
»Und die Stimme?«
»Er schien mir älter zu sein. Ein bisschen heiser. Aber sonst – nein.« Sie hatte nachgesehen, ob ihr Telefon die Nummer des Anrufers gespeichert hatte. Keine Nummer. »Wieso denkt dieser Mensch eigentlich, dass es sich lohnt, mich zu bedrohen oder zu bestechen? Congreve hat mich bereits ausgebootet. Auf medizinische Entscheidungen im Fall Orrin Mather habe ich null Einfluss.«
»Du bist nach wie vor ein Risiko. Du könntest zum Beispiel vor Gericht eine Aussage über Congreves Verhalten machen. Oder du könntest mit dem, was du weißt, zu den Behörden gehen.«
»Aber ohne Orrins Zeugenaussage …«
»Ich glaube kaum, dass sich diese Leute den Kopf darüber zerbrechen, was er vor Gericht aussagen könnte. Ich glaube, sie zerbrechen sich eher den Kopf darüber, was er im Lagerhaus gesehen hat und wie das FBI auf dieses Wissen reagieren könnte – falls man Orrin frei darüber sprechen lässt. Orrin für unzurechnungsfähig zu erklären, ist nur der erste Schritt. Dann wird man ihn mit Medikamenten vollpumpen und dauerhaft wegschließen. Oder für immer zum Schweigen bringen.«
»Das können sie nicht machen«, flüsterte Sandra.
»Ist er einmal interniert, ist alles möglich.«
Das stimmte. Sandra hatte die Statistiken gesehen. Letztes Jahr hatte es in der hiesigen Verwahreinrich tung sechs tätliche Angriffe gegeben (ganz zu schweigen von den Drogentoten und Selbstmorden). Statistisch gesehen waren die staatlichen Lager relativ sicher, weit sicherer jedenfalls als auf der Straße zu leben. Aber möglich war wirklich alles. Vielleicht wurde sogar nachgeholfen …
»Wie halten wir sie also auf?«
Bose lächelte. »Immer mit der Ruhe.«
»Sag mir, was ich tun kann.«
»Gib mir Zeit zum Nachdenken.«
»Viel Zeit haben wir nicht, Bose.« Das Abschlussgespräch mit Orrin sollte am Freitag stattfinden, und Congreve konnte es jederzeit vorverlegen, wenn man ihn unter Druck setzte.
»Ich weiß. Aber es ist nach Mitternacht, und wir brauchen unseren Schlaf. Ich bleibe – einverstanden?«
»Klar.«
»Wenn du möchtest, schlaf ich auf der Couch.«
»Wag es ja nicht!«
Während sie am Küchentisch saß und zusah, wie Bose durch das Rührei pflügte, das sie ihm gemacht hatte, dachte Sandra darüber nach, was der anonyme Anrufer über Kyle
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