Vorübergehend tot
Stimme wieder kalt und so, als sei er kilometerweit von mir entfernt.
„Ich habe etwas angesprochen, was Ihnen Kummer bereitet“, sagte ich. „Tut mir leid. Worüber wollen Sie sprechen?“ Wir wandten uns um und schlenderten die Auffahrt hinauf, zurück zum Haus.
„Über Ihr Leben“, sagte er. „Erzählen Sie mir, was Sie tun, wenn Sie am Morgen aufstehen.“
„Ich klettere aus dem Bett. Dann mache ich sofort das Bett und frühstücke. Toast, manchmal Müsli, manchmal Eier und Kaffee, und dann bürste ich mir die Zähne, dusche und ziehe mich an. Manchmal rasiere ich mir die Beine. Wenn es ein Arbeitstag ist, gehe ich zur Arbeit. Wenn ich erst abends zur Arbeit muß, gehe ich vielleicht einkaufen, oder ich begleite meine Oma zum Laden, oder ich leihe mir ein Video aus, oder ich sitze ein wenig in der Sonne. Ich lese viel. Ich kann mich glücklich schätzen, daß meine Oma noch so gut beieinander ist. Sie wäscht und bügelt und kocht auch fast immer.“
„Was ist mit jungen Männern?“
„Ach, das habe ich Ihnen doch schon erzählt. Es ist einfach unmöglich.“
„Was wollen Sie also tun, Sookie?“ fragte er sanft.
„Alt werden und sterben.“ Meine Stimme klang dünn. Bill hatte einmal zu oft an meine empfindlichen Punkte gerührt.
Zu meiner Verwunderung nahm der Vampir nun meine Hand. Jetzt, wo wir einander ein wenig wütend gemacht und wunde Punkte berührt hatten, schien die Luft mit einem Mal klarer. In der lauen Nacht wehte mir eine Brise die Haare ins Gesicht.
„Würden Sie die Spange herausnehmen?“ bat Bill.
Kein Grund, das nicht zu tun. Ich entzog ihm meine Hand und griff nach oben, um die Spange zu öffnen. Dann schüttelte ich den Kopf, um die Haare zu lockern. Die Haarspange steckte ich Bill in die Tasche, denn ich hatte keine. Bill ließ seine Finger durch mein Haar gleiten, als sei das die natürlichste Sache der Welt, und breitete es auf meinen Schultern aus.
Ich berührte seine Koteletten, denn berühren schien in Ordnung. „Die sind ziemlich lang“, stellte ich fest.
„Das war damals Mode“, sagte er. „Ich hatte Glück, ich trug keinen Bart, wie so viele der Männer, sonst hätte ich den jetzt für alle Ewigkeit.“
„Sie brauchen sich nie zu rasieren?“
„Nein, zum Glück hatte ich mich gerade rasiert.“ Mein Haar schien ihn zu faszinieren. „Im Mondlicht sehen sie silbern aus“, sagte er ruhig.
„Ah. Was tun Sie gerne?“
Selbst im Dunkeln konnte ich den Schatten seines Lächelns sehen.
„Auch ich lese gern.“ Dann dachte er nach. „Ich gehe gern ins Kino. Ich habe die Filmwelt von ihren Anfängen an beobachtet. Ich bin gern in Gesellschaft von Menschen, die ihr Leben normal verbringen. Manchmal sehne ich mich auch nach einem Zusammensein mit anderen Vampiren, auch wenn viele von denen ein Leben führen, das sich von meinem grundsätzlich unterscheidet.“
Wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander her.
„Sehen Sie gern fern?“
„Manchmal“, gab er zu. „Eine Zeitlang habe ich Seifenopern aufgenommen und sie mir nachts angesehen, weil ich dachte, ich liefe Gefahr zu vergessen, was Menschsein heißt. Das habe ich nach einer Weile aber wieder gelassen. Was ich dort zu sehen bekam, ließ mich denken, es sei gar nicht so schlecht, wenn man vergißt, was Menschsein heißt.“ Da mußte ich lachen.
Nun traten wir in den Lichtkreis, der unser Haus umgab. Ich war mir fast sicher gewesen, daß Oma auf der Verandaschaukel sitzen und auf uns warten würde, aber das tat sie nicht, und im Wohnzimmer brannte lediglich eine einzige, nicht besonders helle Lampe. Also wirklich, Oma! dachte ich gereizt. Das war nun wahrlich fast so, als brächte mich ein neuer Verehrer nach der ersten Verabredung nach Hause, und schon ertappte ich mich tatsächlich bei der Frage, ob Bill wohl versuchen würde, mich zu küssen. Angesichts seiner Ansichten über die Länge oder Kürze von Kleidern stand zu befürchten, daß er dies für nicht angebracht hielt. Aber wie dumm es auch sein mag, sich ausgerechnet nach dem Kuß eines Vampirs zu sehnen: Ich wollte genau das - von Bill geküßt werden. Das wollte ich in diesem Moment mehr als alles andere auf der Welt.
Schon spürte ich, wie sich in meiner Brust etwas verspannte, spürte die Bitterkeit darüber, daß mir schon wieder etwas verweigert wurde, wonach ich mich sehnte. Aber dann dachte ich: warum eigentlich nicht?
Sanft zog ich an Bills Hand und brachte ihn so zum Stehen. Dann reckte ich mich auf die Zehenspitzen und
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