Vorübergehend tot
interessiert und schien mich nicht für einen Fall für die Klapsmühle zu halten. Ich hob den Blick - weit mußte ich ihn nicht heben - und sah in die leuchtenden Augen, die sein Gesicht beherrschten.
„Das läßt sich jemandem, der es nicht selbst auch tut, schwer beschreiben. Ich errichte im Kopf einen Zaun ... nein: keinen Zaun. Ich stelle Stahlplatten auf und schiebe sie ineinander. Als Bollwerk zwischen meinem Kopf und den Köpfen aller anderen.“
„Und dann mußt du dafür sorgen, daß diese Stahlplatten nicht verrutschen oder kippen?“
„]a, und das verlangt ungeheure Konzentration. Es ist so, als müßte ich meine Gedanken immerfort aufteilen, weswegen die Leute mich auch für verrückt halten. Die eine Hälfte meines Bewußtseins erhält die Stahlplatten aufrecht, und die andere versucht, sich Bestellungen zu merken - für eine zusammenhängende Konversation ist da oft kein Platz mehr.“ Während ich Sam das alles erklärte, überkam mich eine Welle der Erleichterung. Endlich einmal konnte ich darüber reden!
„Hörst du Worte oder empfängst du einfach nur Eindrücke?“
„Das hängt davon ab, wem ich zuhöre und in welchem Zustand sich der Betreffende befindet. Menschen, die betrunken oder verwirrt sind, vermitteln mir Bilder, Eindrücke, Vorhaben. Bei Menschen, die nüchtern und klar im Kopf sind, höre ich Worte und empfange dazu noch einige Bilder.“
„Der Vampir sagt, ihn kannst du nicht hören.“
Bei der Vorstellung, Sam und Bill könnten sich über mich unterhalten haben, wurde mir etwas mulmig zu Mute. „Das stimmt“, gab ich zu.
„Da kannst du dich entspannen?“
„Ja!“ Das kam aus tiefstem Herzen.
„Kannst du mich auch hören, Sookie?“
„Das möchte ich noch nicht einmal versuchen“, sagte ich hastig und eilte zur Tür, wo ich, die Hand bereits auf der Klinke, noch einmal stehenblieb. Aus der Seitentasche meiner schwarzen Shorts fischte ich ein Papiertaschentuch und wischte mir die Tränenspuren von den Wangen. „Wenn ich deine Gedanken lesen würde, Sam, müßte ich hier kündigen. Ich mag dich, mir gefällt es hier.“
„Versuch es doch einfach irgendwann mal“, sagte Sam beiläufig und wandte sich dann einem Karton mit Whiskeyflaschen zu, den er mit dem rasiermesserscharfen Teppichschneider, den er stets bei sich trug, aufschneiden wollte. „Wenn du es tust, brauchst du dir meinetwegen nicht den Kopf zu zerbrechen. Was mich betrifft, so ist der Job hier dir sicher, solange du ihn haben willst.“
Wenig später wischte ich einen Tisch ab, auf dem Jason Salz verstreut hatte, als er am Nachmittag dagewesen war, um einen Hamburger mit Pommes zu essen und ein paar Bierchen zu trinken. Dabei ließ ich mir Sams Vorschlag durch den Kopf gehen.
An diesem Tag würde ich jedenfalls nicht mehr versuchen, ihm zuzuhören. Heute war er vorbereitet. Ich würde abwarten, bis Sam mit anderen Dingen beschäftigt war, und mich dann einfach mal ein wenig bei ihm einschalten. Immerhin hatte er mich dazu eingeladen - das war mir noch nie passiert.
Irgendwie war es nett, so eingeladen zu werden.
Ich besserte meine Schminke auf und kämmte mich, denn ich trug mein Haar an diesem Tag offen, weil Bill das zu mögen schien. Mich persönlich hatten die Haare den ganzen Abend über eher gestört. Nun war es fast Zeit für mich, zu gehen, und so holte ich meine Handtasche aus Sams Büro.
* * *
Das Compton-Haus lag, wie auch das Haus meiner Großmutter, in einiger Entfernung von der Straße, war aber von dort aus eher zu sehen als das unsrige. Vom Haus der Comptons aus hatte man einen Blick auf den Friedhof; von unserem Haus aus nicht. Das lag (zumindest zum Teil) daran, daß das Compton-Haus höher lag als das unsrige. Es befand sich oben auf einem kleinen Hügel und war wirklich zweistöckig, während Großmutters Haus im Obergeschoß zwar ein paar zusätzliche Schlafzimmer und einen Dachboden hatte, eigentlich aber nur anderthalbstöckig war.
Die Comptons hatten irgendwann einmal in ihrer langen Geschichte ein wahrhaft schönes Heim ihr eigen nennen können, und selbst jetzt strahlte das Haus in der Dunkelheit noch eine gewisse Würde und Anmut aus. Bei Tageslicht jedoch, so wußte ich, konnte man sehen, daß die Farbe von den Säulen abblätterte, die hölzernen Balustraden schief hingen und der Garten ein einziger Urwald war. In der feuchten Wärme Louisianas gerät ein Garten leicht außer Kontrolle, und der alte Compton war kein Mann gewesen, der für die Gartenarbeit
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