Vorzeitsaga 03 - Das Volk der Erde
er den kleinen Bohrer er hatte das Werkzeug in mühevoller Arbeit selbst hergestellt. Es bestand aus einem dünnen Hartholzschaft, dem eigentlichen Bohrer, der am oberen Ende in einen mit einem Loch versehenen Holzkeil gesteckt wurde. Eine am Hartholzschaft befestigte Bogensehne mußte vor und zurück bewegt werden, während der Holzkeil nach unten gedrückt wurde. Kranker Bauch mußte den Keil wegen seines kaputten Armes mit dem Kinn nach unten drücken. Von Zeit zu Zeit mußte die Spitze des Bohrers mit Speichel befeuchtet und in den feinen weißen Sand getaucht werden, der als Schmirgelstoff diente.
Der Himmel begann sich bereits blauviolett zu färben, der Mantel der Nacht senkte sich mit zunehmender Kälte über das Land. Von hier oben konnten sie das Wind Basin überblicken. Blaue Schatten krochen in die Täler zwischen den weit entfernten Bergen. Magisch zog der unendliche Blick gen Süden ihre Aufmerksamkeit an. Das Land reichte immer weiter, bis es in der Entfernung von vielen Tagesmärschen mit dem Horizont verschmolz. Im Westen schienen die Monster Mountains mit ihren schneebedeckten spitzen Gipfelzähnen den in der Dämmerung gelblich-weißen Himmel anzuknabbern. Die steil aufragende Kante der Gray Wall begrenzte den südlichen Teil des Beckens und schloß sich an die Round Rock Mountains an. Weit im Osten waren die Black Mountains nur noch als unregelmäßige, finstere Masse vor dem fast dunklen Himmel zu erkennen; die runden Gipfel lasteten gewichtig auf den baumbewachsenen Hängen.
Kranker Bauch richtete sich auf. Beim letzten Sonnenuntergang hatte er die Steinreihen genau beobachtet. Zu seiner Enttäuschung war die Sonne zwischen zwei Reihen hinter dem Horizont verschwunden.
»Wahrscheinlich sehen wir heute wieder nichts«, sagte er traurig zu Weiße Esche. »Die Steinreihen werden nur an bestimmten Tagen von der Sonne berührt. Singende Steine sagte mir, bis zum längsten Tag vergehen noch zwei Monde. Wir müssen also warten.«
Sie hakte sich bei ihm unter und genoß den Frieden dieses Abends. »Das macht doch nichts. Ich kann mir gut vorstellen, wie die Sonne über die Steine wandert. Ich wußte nicht einmal, daß man die Wege der Gestirne markieren kann.«
»Natürlich. Siehst du, wie die Speichen durch das Innere des Kreises verlaufen? Jede hat eine bestimmte Bedeutung. Es gibt eine Stelle, an der die Sonne am längsten Tag aufgeht, und eine andere, an der die Sterne in der längsten Nacht des Jahres erscheinen. Von Linke Hand habe ich zuerst von einem Sternenrad gehört. Ich wünschte mir so sehr, einmal eines zu sehen.« Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Und jetzt ist dein Wunsch in Erfüllung gegangen.«
Eine Falte erschien auf seiner glatten Stirn. »Deine Stimme klang eben sehr traurig.«
»Nein, ich freue mich wirklich für dich. Ich hoffe, alle deine Wünsche gehen in Erfüllung.« Sie zuckte die Achseln. »Es hat nichts mit dir zu tun. Es liegt allein an mir. Ich bin verwirrt. Das Leben ist so traurig. Zu viel ist in zu kurzer Zeit passiert. Mir ist noch gar nicht richtig klargeworden, daß der Weißlehm-Stamm nicht mehr auf mich wartet. Ich glaube noch immer, ich könnte einfach nach Hause gehen … und Leuchtender Mond und Salbeigeist würden mich erwarten.« Sie schüttelte den Kopf und beobachtete das erste Aufblinken der Sterne im Osten. »Doch das ist nur ein Traum unwiederbringliche Vergangenheit. Die Menschen, die ich liebte, sind tot.«
Er schlang seine Finger in die ihren. »Die Welt ändert sich. Wir sind nur ein Teil der Welt. Menschen sind nichts anderes als Kojoten oder Wölfe. Manchmal tötet der Hunger die Babys und die Alten.
Manchmal werden wir auf der Jagd verwundet oder eine Krankheit breitet sich in unserem Körper aus. Das ist der Lauf der Welt. Ich verstehe es auch nicht. Vielleicht weiß der Schöpfer, warum das alles geschieht. Oder der Große Donnervogel, von dem ihr vom Sonnenvolk dauernd redet. Du kannst ja mal in deinen Träumen die Geistermächte danach fragen.«
»Falls ich träume. Das bleibt mir überlassen, Kranker Bauch. Singende Steine sagt, ich kann mich weigern, mich mit der Macht einzulassen. Ich muß wählen zwischen… zwischen Illusion und der wahren Wirklichkeit der Welt. Verstehst du, was das bedeutet?«
Mürrisch schüttelte er den Kopf. »Nein.«
»Was ist, wenn ich mich weigere, eine Träumerin zu sein? Ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll.«
Er lächelte sie an. »Ich werde dich immer lieben, gleichgültig, wie
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