Vorzeitsaga 03 - Das Volk der Erde
nickte bedächtig, als habe er nach reiflicher Überlegung endlich einen tieferen Sinn in ihrem Verhalten entdeckt. »Ah, jetzt begreife ich. Verpflichtungen veranlassen uns Menschen zu den merkwürdigsten Handlungen. Den gewundenen Pfaden einer Verpflichtung nachzuspüren, ist, als wolle man dem Flug einer Biene in einem Wildblumenfeld folgen.«
Er schwieg. Sein Gesicht verzog sich zu einem vergnügten Grinsen. In dem Moment, als die ersten Sonnenstrahlen über die Gipfel fielen, blickte er auf.
Sie folgte der Richtung seines Blickes, dankbar für das Schweigen nach seinen verwirrenden Worten.
Erst als die Sonne über die Gipfel gestiegen war und ihre goldenen Lichtstrahlen in die Schlucht hinunterschickte, brach Singende Steine die Stille. Er seufzte und leckte sich die Lippen. »Für solche Augenblicke lebt der Mensch.« Er sah sie an. »Und für eine junge Frau, die eine Träumerin werden möchte, lautet die erste Lektion, sich selbst gegenüber stets ehrlich zu sein.« Sie beugte sich zu ihm hinab und sagte eindringlich: »Ich bin ehrlich zu mir selbst.« »Tatsächlich?«
»Ja, natürlich. Ich weiß, was ich will und warum ich es will. Ich bin der Mensch, der in diesem Körper und in dieser Seele lebt. Wie könnte ich unehrlich zu mir sein? Das wäre wie…«
»Wie ein Scheitern, dir die Wahrheit einzugestehen«, unterbrach er sie. »Ich bekenne mich stets zur Wahrheit.«
»So? Gut. Sag mir, was jagt dir am meisten Angst ein daß Stilles Wasser das Wolfsbündel holt oder daß du wieder allein sein wirst, falls er dabei getötet wird?«
Nur zögernd kamen die Worte über ihre Lippen. »Singende Steine, sprich mit ihm. Bitte. Wir dürfen ihn nicht gehen lassen. Gestern ist er beinahe von der Klippe gestürzt. Er ist kein Krieger. Er besitzt weder die Gerissenheit noch die Kühnheit, die ein Krieger braucht. Die Vorstellung, er schleicht sich in ein feindliches Lager und stiehlt einen heiligen Gegenstand wie das Wolfsbündel, ist absurd. Er wird … er wird in einen Kochsack voller Brühe fallen oder über eine Zeltstange stolpern oder einem Hund auf den Schwanz treten. Du kennst Kranker Bauch. Er denkt nicht wie ein Krieger. Er ist zu… zu verletzlich.«
Gleichmütig legte der alte Mann den Kopf in den Nacken und hielt sein Gesicht der Sonne entgegen.
»Anscheinend setzt die Macht größeres Vertrauen in Stilles Wasser als du.«
»Er hat einen kaputten Arm! Er kann nicht einmal zwei Speere hintereinander werfen. Er wird sich umbringen. Ich war Gefangene eines Angehörigen des Wolfsvolkes. Ich weiß, was das für Leute sind.«
Sie senkte die Stimme. »Ich darf nicht zulassen, daß Kranker Bauch so etwas widerfährt.«
»Und was ist mit dir?«
Sie zuckte zusammen. »Mit mir? Es geht um Kranker Bauch…«
»Sollte das Wolfsvolk ihn gefangennehmen, was würde das für dich bedeuten? Weshalb sorgst du dich so um ihn? Ich dachte, du magst die Männer nicht.«
»Kranker Bauch ist anders.«
»Oh? Ist er kein Mann?«
»So habe ich es nicht gemeint.«
Wieder lächelte er, seine Augen funkelten vergnügt. »Ich wüßte zu gern, was passiert, wenn du einmal ehrlich zu dir bist.«
»Wie oft soll ich es dir noch sagen? Ich kenne mich besser, als du mich je kennen wirst.«
»Tatsächlich? Du weißt, daß du Stilles Wasser begleiten mußt, denn du liebst ihn, auch wenn du dir das nicht eingestehen willst. Er ist deine Sicherheit, der einzige Mensch, dem du vertraust. Und du weißt, du wirst ihm niemals ausreden können, das Wolfsbündel zu holen. Er leidet Qualen deshalb …
aber er wird die Bitte der Macht erfüllen. Das steckt in seiner Seele, das entspricht seiner Natur.«
Ihr Widerstand erlahmte. »Vermutlich.«
»Vermutlich? Ist das wieder so ein Dreh, dich vor der Wahrheit zu drücken?«
- Sie setzte sich neben ihn auf den Felsen. »Ich bin nicht davon überzeugt, daß er der Richtige dafür ist.« Sie griff in ihr dichtes Haar und drehte nervös eine Strähne zwischen den Fingern. »Vielleicht bin ich auch nicht die Richtige … allein schon der Gedanke, zum Wolfsvolk zu gehen, ängstigt mich zu Tode. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich dazu überwinden kann. Wenn etwas passiert wenn sie ihn gefangennehmen , liege ich wahrscheinlich vor Angst schluchzend im Dickicht, anstatt nachzudenken und zu handeln.«
»Ah, jetzt bist du doch noch ehrlich.«
Sie schnaubte wütend. »Ich verstehe das nicht. Ich meine, warum hat die Macht gerade uns gerufen, und warum soll ich eine Träumerin sein? Was ist,
Weitere Kostenlose Bücher