Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
unfreundlich? Was habe ich dir getan?«
Hirschhorn winkelte ein Bein an und legte seinen dürren Arm darauf. »Erzähl mir von deiner Frau, Stechapfel. Was hat sie dir getan?«
Stechapfel senkte den Kopf und zögerte einen Moment. Seine Stimme war schmerzerfüllt. »Sie hat Blutschande begangen, Ältester. Mit ihrem Vetter. Während ich auf Handelsreisen war, hat er in meiner Hütte mit ihr im Bett gelegen.«
Hirschhorn hob hochmütig das Kinn. »Und wenn ich dir das nicht glaube?«
»Was ich sage, ist die Wahrheit, Ältester. Warum solltest du mir nicht glauben?«
»Stechapfel.« Nachtschwalbe beugte sich vor und leckte sich über die Lippen. »Wir haben schlechte Neuigkeiten für dich.«
»Welche Neuigkeiten? Habt ihr sie gesehen?«
»Hm, vielleicht. Wir sind nicht sicher. Unsere Leute haben sie nicht nach ihrem Namen gefragt, aber gestern …« Er hielt inne, um einen Blick auf Hirschhorn zu werfen, und der alte Mann nickte.
Nachtschwalbe fuhr fort: »Gestern sind vier Leute aus diesem Dorf heimgekommen und erzählten, daß sie eine Frau und ein Baby gesehen haben. Ein Neugeborenes.«
Stechapfel zuckte nachlässig mit den Schultern. »So? Wie viele Frauen mit Neugeborenen gibt es wohl an der Küste? Das kann irgendeine Frau gewesen sein.«
»Ich glaube nicht«, erwiderte Nachtschwalbe und lehnte sich zurück, zog eine ausgerissene Franse aus seinem Hosenbein. »Das Besondere war auch nicht so sehr die Frau, sondern der, mit dem sie zusammen unterwegs war.«
Stechapfel zuckte unmerklich zusammen, und Tannin wäre beinahe geplatzt, bevor Stechapfel schließlich lauernd fragte: »Mit wem war sie zusammen?«
Nachtschwalbe verstummte und überließ das Wort Hirschhorn. Der alte Mann starrte Stechapfel durchdringend an. Andächtig sagte er: »Mit Sonnenjäger.«
Stechapfels Nasenflügel blähten sich. »Und du denkst, es war meine Frau?«
»Keiner hatte sie je zuvor gesehen«, antwortete Hirschhorn. »Meine Leute kennen hier jeden im Umkreis von zehn Tagesmärschen.«
Stechapfel nickte. »Haben sie sie beschrieben?«
»Ja.« Nachtschwalbe nickte. »Sie sagten, sie sei sehr schön, aber sehr dünn, eine kleine Frau. Sie hatte hüftlanges schwarzes Haar, ein ovales Gesicht, große Augen und volle Lippen. Auf der Stirn hat sie eine verschorfte Schnittwunde. Das Baby trug sie in einem Kaninchenfellsack auf dem Rücken.«
Tannin spürte, wie Stechapfel sich verkrampfte, aber äußerlich ließ sein Bruder sich keine Anspannung anmerken. Verbindlich neigte Stechapfel den Kopf. »Die Beschreibung klingt, als wäre es Turmfalke. Warum war sie mit Sonnenjäger zusammen?«
»Niemand weiß es. Das ist das Problem. Er ist ein Träumer. Normalerweise sollte er nicht mit Frauen Zusammensein!« Die letzten Worte hatte Nachtschwalbe laut hervorgestoßen, und dann schaute er sich schnell um, als hätte er sich selbst überrascht. »Es hat mich sehr geärgert«, sagte er. »Wer könnte auch nur daran denken, sie zu ergreifen, wenn sie mit einem Mann wie Sonnenjäger zusammen ist?
Nur ein Narr würde ihn herausfordern.«
»Welchen Weg haben sie genommen?« fragte Stechapfel mit glühenden Augen.
»Sie…«
Hirschhorn unterbrach Nachtschwalbe: »Unsere Leute haben es nicht gesehen.«
Stechapfel blickte Hirschhorn unfreundlich an. »Egal. Wir werden die Küste in alle Richtungen absuchen, bis wir sie gefunden haben.«
»Dann habt ihr einen langen Weg vor euch und brecht am besten gleich auf.« Der alte Mann erhob sich mühsam. »Du bist nicht willkommen in diesem Dorf, Händler Stechapfel. Wir bitten dich und deinen Bruder, unsere Wünsche zu respektieren und uns so bald wie möglich zu verlassen.« Hirschhorn humpelte zu seinem Zelt zurück und schlüpfte unter dem Türvorhang durch.
Die Dorfbewohner machten sich leise redend wieder an ihre Arbeit. Sie gingen Stechapfel und Tannin aus dem Weg, als würden sie gar nicht existieren. Die Frauen versammelten sich um die Kochfeuer, die Kinder rannten los, um die Hunde zu jagen, und die Männer kehrten zu ihren Plätzen vor den Zelten zurück, wo sie Pfeife rauchten oder mit Würfeln aus Hirschgelenkknochen spielten. Allmählich schwollen die Stimmen wieder an, doch mindestens eine Person in jeder Gruppe behielt Stechapfel und Tannin im Auge.
»Das ist kaum das Willkommen, das ich erwartet habe, Nachtschwalbe«, entgegnete Stechapfel verdrießlich.
»Es ist nicht meine Schuld«, flüsterte der Händler eindringlich. »Diese Leute sind nur entfernte Vettern von mir. Was
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