Vorzeitsaga 07 - Das Volk der Blitze

zog sie heftig an der Hand, um ihr direkt in die Augen zu sehen. »Wovon redest du?«
    »Von nichts Bestimmtem. Ich wollte nur -«
    »Das ist zu gefährlich! Ich habe selbst schon daran gedacht und den Gedanken sofort wieder fallen gelassen. Du wärst schon auf halbem Wege dorthin tot.«
    Rotalge sah ihn ausdruckslos an, aber er durchschaute sie; er hatte die Stirn gerunzelt. Sie sagte: »Du hältst mich sicher für sehr dumm, Eulenfalter.«
    Er sah sie von der Seite an. »Nein«, antwortete er. »Ich habe nur Angst, dass du viele Eigenschaften mit meiner Mutter teilst, junge Kriegerin.«
    Rotalge reckte stolz ihr Kinn empor. »Zum Beispiel?«
    Eulenfalter ließ ihre Hand los und fuhr mit den Fingerspitzen über ihre Wangen. Als er am Kinn ankam, hielt er es fest und starrte sie an, Nase an Nase. Das Mondlicht glitzerte in seinen dunklen Augen. »Zunächst einmal, die irrwitzigsten Dinge zu tun, wenn jemand, den du liebst, in Gefahr ist.
    Und zweitens den Hochmut zu denken, du würdest das allein schaffen. Die zweite ist wohl die schlimmere Eigenschaft.«
    Rotalge lächelte ihn an. »Und du hast keine Eigenschaften von deiner Mutter?«
    Er ließ ihr Kinn los. Unmutig erwiderte er: »Leider habe ich sie auch alle.«
    »Und deshalb habe ich dich wahrscheinlich so gern.«
    Langsam trat ein Lächeln auf sein Gesicht. »Du hast mich gern?«
    »Ja, aber ich hätte dich noch lieber, wenn du mit mir kommen würdest. Nein, hör mir zu. Es würde ja nicht lange dauern. Wenn wir vor dem Morgengrauen aufbrechen, dann -«
    »Große Wühlmaus! Du hast mir überhaupt nicht zugehört!«
    »Doch, das habe ich.« Rotalge machte einen Schritt auf ihn zu und stand mit geballten Fäusten vor ihm. »Du hast gesagt, du hättest schon viele Tagesmärsche nördlich von Windeck hinter dir, und das heißt, du kennst die Pfade durch die Wälder, fast bis hin zum Dorf des Stehenden Horns. Du hast auch gesagt -«
    »Warum sind es immer die Kriegerinnen, die mich anziehen?« fragte Eulenfalter ächzend. »Das wird noch einmal mein Tod sein.«
    »Na gut, dein Tod soll doch wenigstens einen Sinn haben, oder? Komm mit, Eulenfalter. Du kannst deiner Mutter helfen. Und ich helfe Teichläufer. Er braucht mich. Ganz bestimmt. Und ich möchte wetten -« Sie zögerte und senkte ihre Stimme. »Ich wette, deine Mutter braucht dich auch.«
    »Ah!« Er drohte mit dem Zeigefinger. »Und jetzt kommst du mir mit der Schuld. Das können wohl alle Frauen gut, den Männern das Gefühl der Schuld geben?«
    Rotalge lächelte, hängte sich bei ihm ein und drückte seinen Arm. »Ich hab doch gewusst, dass du ein Gewissen hast«, sagte sie. »Wie lange brauchst du, um dich fertig zu machen? Und was ist mit deinen Beinen? Kannst du laufen?«
    »Ich habe nie gesagt, dass ich mitkomme.«
    Rotalge runzelte nachdenklich die Stirn. »Wenn wir natürlich durch die Wälder gehen, dann können wir sowieso nicht oft laufen. Wie viel länger werden wir brauchen, glaubst du, wenn wir -«
    »Rotalge«, seufzte er. »Wir wollen das Holz hier abliefern, bevor mein Vater es selber holt. Dann reden wir weiter. Einverstanden?«
    Sie tätschelte seinen Arm. »Vielen Dank, Eulenfalter.«

Häsling hockte neben seinem Feuer und beobachtete Rotalge, die mit Eulenfalter sprach. Länger als eine Zeithand hatten sie zusammen draußen am Strand gesessen, ohne zu essen, ohne einen Schluck Wasser - und das nach einem anstrengenden Marschtag. Schote und Schwanzfeder waren schon vor längerer Zeit zum Essen gegangen. Was war mit diesem Windeck-Krieger los? War er einfach dumm?
    Offenbar, sonst hätte er Rotalge nicht so lange da draußen aufgehalten. Begriff er denn nicht, wie müde und durstig sie sein musste? Wie konnte ein Mann so rücksichtslos sein?
    Er hatte einen fetten Waschbären mit dem Speer erlegt und das Fleisch gebraten. Die für Rotalge reservierten Stücke waren jetzt in einer Schale auf der anderen Seite des Feuers kalt geworden. Der Wind hatte Asche auf die Fleischstreifen geweht und ihnen eine weiße Kruste gegeben. Und das Fleisch hatte so saftig geschmeckt!
    Ärgerlich warf Häsling Holz in seine Feuergrube und zuckte zusammen, als der untere Ast knackte und ihn mit Funken bespuckte. Weitere Funken schnellten nach oben und segelten auf dem Winde fort. Einer der Krieger, der dreimal zehn Handbreit entfernt schlief, riss sich knurrend die Decke über den Kopf und wälzte sich auf die andere Seite.
    Häsling band seinen Beutel auf und entnahm ihm eine hellgrüne Tunika, die er sich