Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
ihre Aufmerksamkeit. Schwaches Gewimmer wurde hörbar.
Neugierig ging sie Schritt für Schritt den Hang hinunter und versuchte, denjenigen, der sich auf der Plaza bewegte, nicht aus den Augen zu verlieren. Sie sah ihn besser, wie sie entdeckte, wenn sie nicht direkt auf ihn, sondern rechts an ihm vorbeisah. Die stämmige Person ging, als wäre sie verletzt, schonte den rechten Fuß. Die Klagelaute wurden deutlicher.
Distel betrat die Plaza durch das zerschlagene Tor und trat vorsichtig über herabgefallene Balken und Schutt. Ein Truthahn verbarg sich im Schatten, aber als Distel näher kam, stieß er einen kollernden Laut aus und stürzte flügelschlagend davon.
»Wer ist da?« rief ein Mädchen, panisch vor Angst. »Hier ist Distel.« »Oh, Distel…« »Zikade?« »Ja. Ich habe meine Tante gefunden.« Ihr Wimmern steigerte sich zu einem herzzerreißenden Schluchzen. »Sie ist tot.«
Distel blieb stehen. Überall lagen Tote. Der Blutgeruch war erstickend. Sie wappnete sich und ging auf Zikade zu, aber sie sah sich jede Leiche an. Ihr Entsetzen wuchs, als sie ihre Namen flüsterte: »Kleeblatt. Vogelschwanz. Der alte Kampfläufer…«
Zikade nahm den Leichnam ihrer Tante in die Arme und wiegte ihn sanft hin und her. Es war ein ergreifender Anblick. »Meine Tante ist tot. Sie ist gegangen«, weinte sie.
Distel kniete sich hin und strich über Zikades kurzes Haar. »Ich helfe dir, sie zu begraben. Wir sorgen dafür, daß sie den Weg zu den Unterwelten findet… Zikade, hast du gesehen «
»Ja«, antwortete sie und nickte. »Da drüben.« Zikade deutete mit dem Kinn dorthin; mit schriller Stimme sagte sie: »Beide!«
Distel starrte verständnislos in ihr rundes Gesicht. Langsam erhob sie sich und drehte sich um, als bewege sie sich in einem Alptraum. Sie sah das rote Hemd von Palmlilie …
Und die ganze Welt um sie herum wurde kalt und grau. Die trauervollen Schreie von Zikade hallten nicht mehr in ihren Ohren. Den Geruch von versengtem Holz nahm sie nicht mehr wahr. Sie sah die großen toten Augen von Palmlilie, in denen sich das Sternenlicht spiegelte.
Ihre Beine bewegten sich ganz automatisch. Die beiden lagen so nahe, daß sie nur sieben kleine Schritte brauchte. Sie blickte auf sie hinab. Eine blutige kleine Stichverletzung hatte Palmlilies Hemd über dem Herzen aufgerissen. Sie hatten ihm den größten Teil der Kopfhaut abgeschnitten, und ein Pfeil mit abgebrochenen Federn durchbohrte seinen blutverkrusteten Oberschenkel. Endlos lange stand sie da und versuchte, das, was sie auf dem Boden sah, mit dem Bild von Palmlilie in Einklang zu bringen, aber die Teile, wie Scherben von zwei verschiedenen Töpfen, paßten nicht zusammen.
Dann erkannte sie, daß der kopflose Körper, der quer über Palmlilie lag, der eines Jungen war…
Sie hörte den wahnsinnigen Schrei, der die Nacht durchschnitt, doch war es ihr nicht bewußt, daß er aus ihrem eigenen Munde kam. Aus einer unglaublichen Entfernung hörte Distel jemanden laufend näher kommen und merkte undeutlich, daß Arme sie umschlangen. Ein abgelöster Teil ihrer Seele sah Zikade, die sie anstarrte und zu ihr sprach - der Mund der jungen Frau bewegte sich -, aber Distel hörte die Wörter nicht. Hatte sie einen schweren Schlag auf den Kopf bekommen?
Zikade führte sie etwas abseits und setzte sie liebevoll auf den Boden. Dann verschwand sie eine Weile und kam mit einer Decke zurück, die sie über Distels kalte Schultern breitete. Zikade setzte sich neben sie, legte einen Arm um sie und lehnte ihren Kopf an Distels Schulter. Wie aus einer anderen Welt fielen Tränen auf Distels Hand, kühle Tränen, so kühl auf der Haut. Ihr Mund fing an zu zittern, und dann breitete sich das Zittern aus und erfaßte den ganzen Körper. »Oh nein«, flüsterte Zikade.
Sie sprang auf und rannte. Distel sah sie über die Leiter in die Kiva klettern. Mit weiteren Decken kam Zikade zurück, legte noch zwei davon über Distels Schultern und setzte sich wieder. Sie beugte sich vor und sang leise. Die Totenklage …
Distel sah zu, ohne sich zu rühren - eine Frau in Trance. Doch nach einer Weile hob sie die bleiernen Arme und zog Zikade an sich.
Distel wiegte die junge Frau in ihren Armen.
… Wiegte und wiegte.
20. K APITEL
Ein Klappern auf dem Dach weckte Nachtsonne. Da sie mit einem plötzlichen Lichteinfall rechnete, kniff sie die Augen zusammen. Jedesmal wenn eine der Sklavinnen eintrat, blendete sie die unvermittelte Helligkeit. Sie setzte sich auf die steif
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