Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
Erde heran. Distel ging zurück und strich zärtlich über Zikades verfilztes Haar. »Wir lagern hier. Morgen früh mache ich mich dann auf zu den Gila-Monster-Klippen. Ich kann das wohl in fünf Tagen schaffen, wenn ich mich ranhalte und nicht -«
»Warum?« Zikade stand mit offenem Mund da. Die weißen Zähne schimmerten im Mondlicht. »Die Feuerhunde werden dich töten. Sie wissen, daß du zum Rechten Weg gehörst, und sie werden dich zur Sklavin machen und -«
»Das werden sie nicht.« Distel strich Zikade übers Haar, um sie zu beruhigen; die junge Frau ballte dauernd die Fäuste. »Nicht, wenn ich mit ihrem Häuptling sprechen kann. Und vielleicht ist das der einzige Weg, um Maisfaser zu retten - wenn sie noch lebt. Der Häuptling Eichelhäher und die Ehrwürdige Mutter Mondtanz hatten eine einzige Tochter, und das war Rehkitz, und ich bin ziemlich sicher, daß Rehkitz Maisfasers wirkliche Mutter war.«
»Maisfasers richtige Mutter? Ich dachte immer, das bist du.«
»Nein, Zikade, das bin ich nicht.«
»Warum hat mir Maisfaser das nie erzählt?«
»Sie wußte es nicht. Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir, wenn du mich auf dem Weg nach Süden begleiten willst. Aber das mußt du nicht. Es wäre vielleicht auch wirklich besser, ich ließe dich unterwegs in einem kleinen Dorf des Rechten Wegs zurück. Da bist du sicherer -« »Ich - ich weiß nicht«, stammelte Zikade. »Ich werde morgen darüber nachdenken. Aber erzähl mir, was du vorhast… Du willst Häuptling Eichelhäher sagen, daß seine Enkeltochter am Leben ist?« Distel streifte ihr Bündel ab und ließ es in den Sand fallen. »Ja. Eichelhäher hat die Schwester von Mondtanz geheiratet, Flaumfeder. Aus dieser Verbindung kamen nur Söhne. Wenn ich mich nicht irre, ist Maisfaser die Erbin von Gila-Monster-Klippen-Dorf und dem ganzen Umland. Eichelhäher wird nicht besonders glücklich darüber sein, daß die Gesegnete Sonne seine Enkeltochter in Krallenstadt gefangenhält.« Sie ließ die Drohung in der Luft schweben.
Zikade fragte flüsternd: »Wird Maisfaser denn in Krallenstadt festgehalten?«
»Dahin sollte sie gehen, hatte ich ihr gesagt, wenn etwas geschieht und sie Hilfe braucht. Wenn sie das getan hat« - Distel atmete tief ein und betete, daß Maisfaser ihr einmal gehorcht hätte - »dann ist sie dort und in Sicherheit.«
»Keine Gefangene also?«
Distel massierte ihre schmerzenden Schultern. »Ich glaube nicht, daß ihr wirklicher Vater so etwas zuließe. Ich nehme an, er ist derjenige, der so viele Sommer lang für ihre Erziehung bezahlt hatte. Vielleicht aber auch nicht. Ihr Vater könnte inzwischen sogar schon tot sein. Genau weiß ich überhaupt nichts, Zikade.«
»Doch. Eines weißt du.«
»Nämlich?«
Zikades Augen waren auf einmal wie kleine geflammte Dolche. Ihre Stimme war so schneidend wie ein fein behauener Obsidianspan. »Wenn Eichelhäher glaubt, daß seine Enkeltochter in Krallenstadt gefangen sitzt, dann wird er sie zurückholen wollen.«
»Falls Eichelhäher und Flaumfeder mir glauben. Und sie haben keinen Grund dazu. Ich denke nur, daß ich -«
»Viele Krieger, die Lanzenblattdorf überfallen haben, werden in dem Krieg fallen.« Ein grimmiges Lächeln trat auf ihre Lippen. Sie hob ihr Gesicht zum Himmel und schloß die Augen. »Ich will dabeisein. Das will ich sehen.«
Distel starrte sie an. War das dieselbe lebenslustige junge Frau, die noch vor kaum einem Viertelmond mit ihrer Tochter herumgetobt hatte? Ihr wurde innerlich ganz kalt.
Kniend zog sie ihre Decke aus dem Bündel und zwei Pemmikan-Würste: Fleisch, Fett und Beeren in einen Hirschdarm gepreßt. Vor zwei Tagen hatten sie ein Hirschkalb erlegt, soviel davon gegessen, wie sie konnten, und den Rest zu Pemmikan verarbeitet. Eine Wurst gab sie Zikade, die sie annahm. Distel wickelte sich in ihre Decke und rollte sich auf die Seite, das Gesicht nach Süden. Sie löste das verknotete Ende der Wurst und drückte sich Pemmikan in den Mund, und dabei schlug ihr der Wind die Decke um die Beine. Sie fing einen Zipfel und hielt ihn mit den Füßen fest. Der köstliche Nachgeschmack von Hirschfleisch und Wacholderbeeren besänftigte Distels wundgeriebene Nerven. Sie kuschelte sich tiefer in die Decke, aß weiter und lauschte in die Nacht. Pfeifend durchstrich der Windjunge die Gräben. Der Beifuß raschelte. In weiter Ferne, kaum hörbar, heulte ein Coyote. Sie stellte sich das Dorf von Eichelhäher vor. Sie war nie dort gewesen, hatte aber von
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