Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
verhandelt, hatte argumentiert und sogar Kriegern anderer Clans angeboten, sie dafür zu bezahlen, daß sie den Leichenzug begleiteten. Er hatte achtundsechzig Krieger zusammengebracht, und das sollte Schlangenhaupt eigentlich genügen. Es mußte ihm genügen. Fünf Krieger würde er auf Wache lassen - vier in Krallenstadt und den jungen Krieger Blattwespe im Signalturm beim Großen Platz. Den einzigen, den er nicht daraufhin angesprochen hatte, war Eisenholz. Er hatte es versucht, aber Eisenholz war den ganzen Tag lang nicht in seiner Kammer gewesen. Man sagte ihm, Eisenholz sei bei Nordlicht, dann bei Nachtsonne und schließlich bei Düne. Spannerraupe hatte noch ein letztes Mal in Eisenholz' Kammer nachgesehen, bevor er Stechmücke ablöste. Kriecher hatte ihm berichtet, er habe Eisenholz kurz vor Sonnenuntergang die Stadt verlassen sehen.
Zurückgekehrt war er nicht, sonst hätte Spannerraupe ihn gesehen. Was machte er da draußen? Einen Besuch in einer Nachbarstadt?
Das Geräusch klappernder Tassen und Schalen wurde stärker; die Leute machten Abendessen. Spannerraupe war zu seiner Mutter ins Zimmer gegangen, um mit Kriecher zu sprechen, die Stirn seiner Mutter zu küssen und schnell eine Schale Bohnen und Zwiebeln zu verzehren. Er fühlte sich wohler, obwohl der Hunger immer noch in ihm nagte. Kriecher hatte ihm jeden tauglichen Krieger des Bison-Clans versprochen, doch waren verschiedene krank, einer hatte eine gebrochene Hand. Dachsbogen hatte Spannerraupe fluchend mitgeteilt, daß es ein Wahnsinn sei, achtzig Krieger für einen Leichenzug abzustellen, doch immerhin hatte er ihm zwanzig Mann vom Coyote-Clan versprochen. Gelbmädchen war widerspenstig gewesen: Sie sollte ihm fünfzehn Krieger geben. Aber sie hielt ihre Steinmetze vom Ameisen-Clan für viel zu gut, um Kriegsdienste zu leisten. Spannerraupe mußte ihr zustimmen. Ein guter Steinmetz war soviel wert wie sein Gewicht in Türkisen. Ein Krieger war entbehrlich. Er seufzte.
Da fiel ihm etwas auf. Er brauchte sich nur ein wenig zur Seite zu wenden, um die Person zu sehen. Braun gekleidet, verschmolz sie mit der Nacht. Die Gestalt kletterte durch Kriechers Fenster und hastete ins Dunkel.
Trauertaube? Wohin geht sie diesmal? Trifft sie sich wieder mit Fichtenzapfen? Er rieb sich nachdenklich das Kinn, setzte sich und zog die Knie an, um die Arme aufzustützen. Ohne Ablösung in der Nacht konnte er es sich nicht leisten, hinter ihr her zu schlendern, um herauszufinden, was sie im Schilde führte.
Jedoch, beim Zorn des Windjungen, die Sache war beunruhigend.
Trauertaube kannte die Strafe für nächtliches Ausgehen. Sie würde es nicht wagen, wenn ihr nicht Schlangenhaupt oder Kriecher die Erlaubnis dazu gegeben hätte. Oder doch? Spannerraupe neigte den Kopf zur Seite. Aber wenn sie die Erlaubnis hatte - warum mußte sie dann heimlich durchs Fenster hinausschleichen ? Sie hätte vor seinen Augen durchs Tor gehen können. Aus demselben Grund wie heute morgen. Schlangenhaupt will nicht, daß jemand, mich eingeschlossen, von ihrem Treffen mit Fichtenzapfen erfährt.
Er massierte sich den Nacken. Fichtenzapfen hatte gesagt, seine Arbeit stehe im Zusammenhang mit dem Überleben des Volks des Rechten Wegs. Was hatte das zu bedeuten? Nahrung zu sichern, um eine Hungersnot abzuwenden? Bündnisse einzugehen, um gemeinsame Feinde besser zu bekämpfen? Vielleicht Handel aufzunehmen mit den geächteten Hügelgrabbauern? Spannerraupe hatte gehört, daß sie fabelhafte schwarze Töpferwaren herstellen und -
Ein gellender Schrei von der Senke her durchschnitt die Nacht, und ihm folgte das heisere Brüllen eines Mannes.
Spannerraupe packte Bogen und Köcher, sprang auf und versuchte, das Dunkel mit seinen Blicken zu durchdringen. Sein Herz begann zu hämmern, als er Eisenholz erkannte, der mit jemandem in seinen Armen wie besessen auf Krallenstadt zurannte und rief: »Nordlicht? Nordlicht!«
Spannerraupe schwang sich Bogen und Köcher über die Schulter, raste auf die Leiter zu und nahm drei Sprossen auf einmal. Als er auf den Einlaß zueilte, überrannte er fast Eisenholz, der hindurchstürmte - mit Maisfaser in den Armen!
Spannerraupe stand der Mund offen. Sie lag schlaff in Eisenholz' Armen, ihr langes blutbeflecktes Haar hing an seiner Seite herunter. Ein abgebrochener Pfeil steckt in ihrem Gesicht. Blut verfärbte ihr gelbes Kleid und Eisenholz' Hirschlederhemd.
»Was ist los?« wollte Spannerraupe wissen, legte einen Pfeil ein und drehte sich rasch zum
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