Vyleta, Dan
seine Statur zu Hilfe, obwohl ich zu sagen
wage, dass sie ihm wenig geholfen hätte, wäre sie nicht mit List eingesetzt
worden. Statt darauf zu warten, dass ihn die britischen Offiziellen aufspürten,
durchkämmte Söldmann den Sektor nach seinesgleichen. Er fand, was er suchte
(und mehr), als er die Zeltplane zur Seite schlug und hineinwanderte in Karli
Schäfers Zirkus, der seine Zelte mit erbitterter Entschlossenheit nur Monate
nach Kriegsende auf einem pockennarbigen Feld nicht weit vom Schloss Charlottenburg
entfernt aufgeschlagen hatte. Drinnen war man gerade beim Trampolintraining,
und als der kleine Ernst den Sand der Arena betrat, konnte er etwa zehn
Liliputaner und Zwerge atemlos durch die Luft fliegen sehen. Sie schwebten auf
halber Höhe zwischen der sternenübersäten Decke und der riesigen blau
geränderten Vorrichtung, die ihnen ihre Flügel verlieh. In langsamen, präzisen
Bewegungen überschlugen sie sich und jauchzten vor Freude, wenn sie zurück auf
das Tuch prallten. Unter den Luftfahrern gab es auch Frauen: die Beine wie
Kartoffelstampfer und unter den flatternden kurzen Röcken knappe, glänzende
Höschen in den Farben der italienischen Flagge. Söldmann hatte keine Ahnung,
dass Karli Schäfers Zirkus dank einer Verrücktheit des Schicksals, das der
Wissenschaft der Wahrscheinlichkeit während der letzten zehn Jahre mit Hohn und
Spott begegnet war, erst kürzlich seinen Namen geändert hatte. Vor gar nicht
langer Zeit hatte der Zirkus seine hell leuchtende Flagge noch unter dem Namen
Rancini gehisst. Kurz, die Kleinwüchsigen trainierten in genau dem Aufzug, in
dem sie schon vor mehr als dreißig Jahren durch Dresden gezogen waren und
äußerst unvorteilhafte Gerüchte über Frau Söldmanns eheliche Treue und die
Abstammung des kleinen Ernst in Gang gesetzt hatten. Der Namenswechsel datierte
aus der kurzen Zeitspanne, da die italienischen Kriegsanstrengungen mit dem
Kopf voraus gegen die Wand der eigenen Unfähigkeit gerannt waren, während das
Versprechen des viel besungenen »Endsiegs« in Deutschland noch eine erträglich
glaubhafte Lüge blieb. Dieser Umstand nahm Söldmann jeden Wunsch, die Gesichter
der älteren Zwerge auf irgendwelche Familienähnlichkeiten hin zu studieren.
Was er stattdessen in dem Gewusel aus Sprüngen, Salti, Schrauben und luftigen
Handständen sah, war das blonde Fräulein Persil, die zur Ikone gewordene
Repräsentantin von Henkels Wunderpulver, die auf Tausenden deutschen Litfaßsäulen
zu Berühmtheit gelangt war, gehüllt in ein weißes Sommerkleid, das nur zart
auf die Festigkeit ihrer Brüste verwies. Schüchtern bot sie ihm die Hand, um
ihn auf das Sanfteste zu begrüßen. Teufel, dachte er, bevor er mit ihr fertig
war, würde er ihr schon einen Grund geben, sich ordentlich das Kleid zu
waschen. Ungewollt, während er erneut dem schwerelosen Tanz der Zwerge zusah,
begann sich Ernst Rainer Söldmanns beachtlicher Johannes zu versteifen.
Von da an
war es nur noch eine Frage des Geldes und der nötigen Unverfrorenheit. Söldmann
wandte sich an den Direktor des Zirkus, einen gewissen Herrn Schäfer, früher
Rancini, und verhandelte einen Preis. Schon am nächsten Tag zogen sechzehn
Zwerge und neun Liliputaner zur britischen Information Services Control in der
Schlüterstraße 45, dem ehemaligen Sitz der goebbelsschen Reichskulturkammer und
damit ehedem Epizentrum des nationalsozialistischen Nazifizierungsprogramms.
Die Zahl der Kleinwüchsigen umfasste ein Neumitglied, einen Burschen aus
Dresden mit geringem künstlerischem Talent, dessen Arbeitspapiere besagten,
dass er von Geburt an Mitglied der Truppe sei. Die Laune war bestens, hatte
Söldmann doch etwas Bier vom Schwarzmarkt besorgt und es bei einem herzhaften
Frühstück mit Brot und Würstchen ausgeschenkt. Zwerge und Liliputaner
schwärmten im Wartebereich der ISC aus und verlangten nach ausreichend
Fragebögen, um die Sache »ein für alle Mal« hinter sich zu bringen. Schnell
waren die wenigen verfügbaren Stühle besetzt, dazu breiteten sie sich auf dem
Teppichboden aus, wo sie, bäuchlings und mit einem Stift in der Hand, Fragen
zu ihrer Wehrmachtsvergangenheit sowie ihren Jahren im Dienste von SS und
Waffen-SS beantworteten. Natürlich amüsierten sich die Dienst tuenden
Unteroffiziere prächtig und hatten nichts dagegen, dass die Zwerge mit
Büromaterial jonglierten, hier und da etwas wegzauberten und geschickt eine
menschliche Pyramide errichteten. Die ausgefüllten Fragebögen wurden ohne
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