Wach auf, wenn du dich traust
eingewachsen. Auf der einen Seite hatte man das Moos abgekratzt und etwas mit Kreide aufgemalt. Sie knieten sich neben Tino vor den Stein und betrachteten ihn.
»Sieht aus wie Kindergekrakel«, sagte Tino.
Pauline legte den Kopf schief.
»Das soll irgendwas bedeuten«, meinte sie. »Bloß was? Runen sind es jedenfalls nicht.«
Jenny stand auf und trat ein paar Schritte zurück. Es sah wirklich aus wie ein paar Strichmännchen.
»Also, ich glaub ja, dass wir uns wirklich fesseln sollen«, sagte Tino und tippte auf eine Stelle an einem Kreidemännchen, an dem schon etwas Farbe abgegangen war.
»Du spinnst wohl?«, fragte Debbie. »Wo siehst du denn hier irgendwelche Fesseln?«
»Na, hier.« Tino zeigte auf eine Stelle am Kopf eines Männchens.
»Am Kopf?«
»Das sind Augenbinden«, sagte Pauline und richtete sich auf.
»Du hast recht!« Sabrina erhob sich. Ihre Augen leuchteten förmlich. »Drei große Männchen und drei kleine dahinter!«
Silvio schien nicht ganz überzeugt. »Für mich sieht das eher nach Bewaffnung aus«, meinte er. »Wir sollen uns bewaffnen.«
»Und uns die Waffen gegenseitig vors Gesicht halten?«, fragte Pauline spöttisch.
»Drei sind blind und werden von den anderen dreien geführt«, überlegte Jenny langsam.
»Ja«, sagte Pauline. »Das könnte es sein.«
Silvio trat ebenfalls einige Schritte vom Stein weg. »Sicher?«, fragte er skeptisch.
»Fällt dir was Besseres ein?«, gab Pauline zurück. Er wiegte den Kopf hin und her. Dann hob er die Schultern. »Nicht wirklich«, gab er zu.
»Also, wer ist dafür, dass wir es so machen?«, fragte Pauline. Einer nach dem anderen nickte zögernd.
»Und womit sollen wir uns bitte schön die Augen verbinden?«, fragte Deborah.
»Und vor allem: Wer?«, meinte Silvio.
»Na, damit«, gab Pauline zur Antwort und riss den Saum ihres Rocks ab. »Und wir losen aus.«
Kurz drauf war die Entscheidung gefallen: Jenny, Deborah und Tino würden blind und an den Händen gefesselt die Lichtung betreten. Pauline führte Tino, Silvio Deborah und Jenny wartete darauf, sich an Sabrinas Arm festhalten zu können.
»Hoffentlich machen wir uns jetzt nicht völlig zum Affen«, flüsterte sie in Sabrinas Richtung, doch sie konnte nicht spüren, ob Sabrina ihre Befürchtung teilte. Jenny bemühte sich, so gut es ging, das Schaudern zu ignorieren, das sie erfasste, als sie nichts mehr sehen konnte und ihre Hände vor ihr zusammengebunden waren.
Langsam setzten sie sich in Bewegung. Jenny tat vorsichtig einen Schritt nach dem anderen auf dem unebenen Waldboden. Obwohl Sabrina sie hin und wieder warnte, fürchtete sie trotzdem, über Wurzeln, am Boden liegende Stöcke oder Steine zu stolpern. Sabrina konnte ja schließlich ihre Augen nicht überall haben.
Es wurde heller. Sie schienen sich auf die Lichtung zuzubewegen, auf der sie Finn gesehen hatten. Der mit Ästen übersäte Waldboden wich einer mit Gras bewachsenen Fläche. Jenny erwartete jeden Moment einen Kommentar von Markus oder Finn, doch es war nichts zu hören als ihr Atmen.
»Wo sind wir?«, wisperte sie. »Ist Markus nicht da?«
»Doch«, gab Sabrina kaum hörbar zurück, »aber wir sollen still sein.«
Sie verstummten wieder. Dann blieben sie stehen.
Vielleicht war es die Kombination aus Blindheit, Gefesseltsein und Stille, aus Waldgeruch und dem Geräusch aufflatternder Vögel. Plötzlich stellten sich Jennys Nackenhaare auf. Die Übelkeit kam zurück, ganz leicht und kaum zu spüren, eher wie eine Erinnerung daran denn als wirkliches Gefühl. Etwas stimmte nicht.
Dass etwas nicht stimmte, hatte Jenny vergessen im Wald, sie hatte für zwei, drei Stunden nicht mehr daran gedacht. Doch jetzt war es wieder da. Etwas in ihr sträubte sich, weiterzugehen, bei diesen Spielchen mitzumachen, die Kontrolle abzugeben. Am liebsten hätte sie sich die Augenbinde vom Kopf gerissen, doch sie wagte nicht, die Mission ihrer Gruppe noch in den letzten Minuten zu gefährden. Wer wusste es schon – vielleicht würde Markus ihre Gruppe disqualifizieren. Und was würde er dann mit ihnen machen?
Plötzlich spürte sie, dass Sabrina mit irgendjemandem Handzeichen gab. Nein, sie gestikulierte mit dem ganzen Körper, ihre Haare streiften Jennys Nacken, sie schien den Kopf zu schütteln. Jenny wurde schwindlig.
»Was ist los?«, fragte sie leise, doch von Sabrina kam keine Antwort. Sie standen immer noch reglos da. Irgendwann hörte Jenny Sabrina leise flüstern: »Sorry.«
Dann wurde sie gestoßen. Obwohl
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