Wach nicht auf!: Roman (German Edition)
kehrte zu dem Mann am Flügel zurück. Er trug ein weißes Sakko über einem neonpinken T-Shirt, Jeans und Slipper ohne Socken. Mit gesenktem Kopf saß er da und ließ die Hände leise über die Tasten gleiten. Eine Frau, deren rotes Haar ihr wie ein Wasserfall über den Rücken fiel, lehnte am Flügel und lauschte. Sie war genauso eigenartig gekleidet wie alle anderen – ein purpurroter Minirock und eine hauchdünne lavendelblaue Bluse. Sie hielt eine Zigarette in der Hand und fuhr damit durch die Luft, während sie mit dem Pianisten redete. Etwas, was sie sagte, veranlasste den Mann, plötzlich den Kopf zu heben.
Fritz. Ein viel jüngerer Fritz.
Bevor er etwas erwidern konnte, wandten die beiden gleichzeitig den Kopf, da ein distinguiert wirkender Herr mit silbrigem Haar zu ihnen trat. Die Frau drehte sich ein Stück herum und schob sich vom Flügel weg. Sie legte ihm leicht die Hand auf den Arm, stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Mann warf belustigt den Kopf zurück und lachte. Grinsend senkte Fritz den Kopf wieder und spielte lauter.
Sam erkannte den Song. Sie hatte ihn schon auf einem Oldie-Sender in Minneapolis gehört, aber sie konnte sich nicht an die Worte erinnern.
Die Frau hatte kein Problem mit dem Text. Sie trat von dem Mann weg, drückte ihre Zigarette aus und begann, verführerisch zu singen, wobei sie sich lasziv am Flügel räkelte. Ihr Gefährte sah zu, ein wohlwollendes Lächeln im Gesicht und Begehren in den Augen.
Noch jemand sah zu. Ein Mann, der einsam auf der Couch saß. Im Vergleich zu den anderen Gästen im Zimmer war er schlicht gekleidet, und, das längliche Gesicht unglücklich verzogen, blickte er auf den Rotschopf, der beim Flügel stand. Er hatte die Knie fest zusammengepresst und hielt ein Longdrinkglas in seinen beiden abgearbeiteten Händen. Sam meinte, nie einen unglücklicheren Menschen gesehen zu haben, und fühlte sich zu der Couch hingezogen.
Die Traumszene wechselte, und plötzlich war sie draußen. War es in derselben Nacht? Träumte sie noch immer vom See?
Sie blickte nach oben. Am Nachthimmel leuchtete ein Halbmond und warf sein blasses Licht auf den Wald, der sie umstand. Als sie sich im Traum fortbewegte, knirschten abgefallene Kiefernnadeln unter ihren Füßen, und eine kühle Brise liebkoste ihre nackten Arme und raschelte im Laub. Sommer, es muss Sommer sein , dachte sie.
Es war friedlich, aber sie empfand keinen Frieden. Sie fühlte sich von den Schatten der hohen Kiefern bedrängt und befand sich in einem hyperwachsamen Zustand, in dem sie sich der im Unterholz herumwuselnden Geschöpfe bewusst war. Es kam ihr so vor, als würde sie von tausend Augen beobachtet, während ein Fäulnisgeruch sich unter dem Duft des wilden Geißblatts verbarg. In der Ferne hörte sie wütendes Stimmengewirr. Sie drehte sich um und ging darauf zu.
Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn, als sie unter den Bäumen hervortrat und auf das schwarze Wasser eines Sees blickte. Die Stimmen verstummten.
Eine Gestalt kniete am Ende des Stegs, der aufs dunkle Wasser hinausführte. Eine Frau, die in dem schwachen Licht nicht zu erkennen war, hielt die Hände an die Brust gepresst; ihre Schluchzer schwollen im Rhythmus der Wellen an, die gegen den Strand schlugen.
Der Wind trug ein leises bitte an Sams Ohren, und plötzlich brannte ihr Magen vor Säure. Sie selbst war diese Frau gewesen. Sie hatte schluchzend um ihr Leben gefleht, während die Kälte des Betonbodens in ihre Gelenke aufstieg. Leid und Mitgefühl strömten aus Sams Herz, als versuchte ihre Seele, die weinende Frau zu berühren.
Plötzlich hörte die Frau auf. Sie hob den Kopf, und ihre schattenhafte Hand wischte die Tränen weg. Sie bewegte sich langsam, und Sam wusste, dass ihre Blicke sich jeden Moment treffen mussten.
Ein Schmerz – plötzlich und hart – fuhr durch ihren Hinterkopf und warf sie auf die Knie nieder. Kleine Steine, die unter ihr auf dem Boden lagen, bohrten sich in ihr Fleisch, und ein lautloser Schrei schnürte ihr die Kehle zu. Sie wusste, was als Nächstes kommen würde. Der Traum würde sich verändern. Sie wäre wieder zurück – zurück in der einsamen Tiefgarage. Sie wäre wieder vom Gestank der Abgase umgeben. Sie würde den Spott und Hohn der jungen Kerle hören, die sie umkreist hatten. Schmerz … so viel Schmerz … genug, um sie mit blinder Angst zu erfüllen.
Sie musste aufwachen.
Mit einem Ruck schoss sie im Bett hoch und fiel dann wieder auf ihr
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