Wachgeküßt
nächstem Restaurantführer erwähnt wird, dürfen wir Platz nehmen.
Zwei mißtrauische Ober schieben einige der größten Tische zusammen, verfrachten uns dorthin, reichen uns die Karten und eilen dann zur Theke, um vierzig Flaschen chinesisches Bier zu holen. Zwei für jeden, damit wir ein bißchen in Fahrt kommen.
Unweigerlich muß ich an die Speisung der Fünftausend denken. Schale für Schale kommt durch die saloonähnlichen Schwingtüren, die von der Küche zum Restaurant führen, und sie alle werden auf den kleinen Stövchen mit den Kerzen auf der Mitte des Tisches abgestellt.
Schon Anblick und Geruch von diesem Chow Mein genügen, um mich aus der schleichenden Appetitlosigkeit der letzten paar Monate zu reißen.
Das Essen hier ist göttlich. Hier habe ich früher ziemlich oft gegessen... mit Max.
Bei dem Gedanken an ihn vergeht mir der Appetit schlagartig
wieder. Wenigstens ist das gut für meine Taille. Ich war kurz davor, eine zufriedene, leicht verfettete Hausfrau zu werden, als ich noch mit ihm zusammenlebte. Jetzt bin ich wieder bei meinem früheren Kampfgewicht von haarscharf siebenundfünfzig Kilo gelandet.
Ich lehne mich zurück und nuckele ein bißchen an meinem Bier, während die anderen meinen Appetitmangel wieder ausgleichen. Wie ausgehungerte Wölfe über die frische Beute fallen sie über die blauen Porzellanschälchen her, knurren sich gegenseitig an und streiten um die knusprige Ente.
Selbst Lionel, der sich bitter darüber beklagt, soviel Natriumglutamat zu sich nehmen zu müssen, schafft es, zwei Teller voll mit Frühlingsrollen, süßsaurem Chow Mein und – obwohl er behauptet, ein überzeugter Vegetarier zu sein – fünf Spare Ribs in Barbecue-Soße in sich reinzustopfen, bevor er nach Hause verschwindet, gerade noch rechtzeitig, um seinen Anteil an der Rechnung nicht zahlen zu müssen, die in astronomische Höhen gestiegen ist.
Der sturzbetrunkene Rodney beharrt darauf, sie auf sein nunmehr erloschenes Spesenkonto zu nehmen.
»Was solln’se denn machen?« nuschelt er und unterschreibt den Scheck mit einem Schlenker. »Mich rausschmeißen?«
Damien steht mühsam auf und hält eine Flasche chinesisches Bier in die Höhe.
»Ein Toast. Auf Rodders – möge er lange und glücklich als Rentner leben.«
»Genau, was machst du denn jetzt mit deiner vielen Freizeit, Rodney?« Der Große Eric lehnt sich in seinem Stuhl zurück und stochert mit einer von Jennys Haarnadeln, die er gerade aus ihrem schimmernden Blondschopf gezogen hat, in seinen Zähnen herum.
Auch Rodney steht auf.
»Ich«, verkündet er glücklich und schwenkt sein Glas durch
die Luft, »werde das Leben genießen. Aus und vorbei ist es mit Frühdiensten und Nachtschichten...«
»Wann will er die denn gemacht haben?« fragt Mary.
»Weiß nicht«, antworte ich. »Muß ich verpaßt haben.«
»O nein, ich hab mein ganzes Leben über gearbeitet, und jetzt wird’s Zeit für mich, mal zu entspannen...«
»Also macht er so weiter wie in den letzten zwanzig Jahren«, sage ich zu Mary.
»Zeit, mich auf meinen Lorbeeren auszuruhen...«
»Statt sich mal auf den Hintern zu setzen«, flüstert sie.
»Und die Früchte meiner Arbeit zu genießen.«
»Eine fette Pension, ein Sparkonto in der Karibik, angefüllt mit Bestechungs- und Schweigegeldern, und eine alternde Mätresse in einem angemieteten Penthouse in Peckham«, flüstere ich zurück.
»Cheers, Leute! Auf die Gesundheit!« Und Rodney kippt seinen achten Drink in einem Zug.
»Cheers!« erwidern wir alle mit unterschiedlicher Begeisterung.
»Und um gleich damit anzufangen«, lallt er und beäugt sein nunmehr leeres Glas beinahe traurig, »geh ich jetzt in den nächsten Nachtclub, um mal so richtig abzutanzen!«
Er kullert betrunken zur Seite. Ich bin schon fast aufgesprungen, um ihn am Fallen zu hindern, als er die gleiche Bewegung noch einmal vollführt, diesmal aber zur anderen Seite, und da wird mir klar, daß er das unter Tanzen versteht.
»Na, wie ist es? Wer ist dabei?«
Rodney, der ungekrönte Discoking.
Wir machen noch einen Umweg durch mehrere Kneipen, bevor wir in den Club gehen. Die einzigen, die abspringen, sind Mary, deren Babysitter gegen elf Uhr zu Hause sein muß, und Glenda, deren Mieze dringend Futter braucht.
Die Türsteher im Oasis gleichen einer abweisenden Wand aus
Muskeln. Ich könnte schwören, daß der eine von ihnen der jüngere Bruder von Mike Tyson ist, und der andere sieht aus wie Popeyes größter Feind Bluto, nur noch
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