Wachsam

Wange an rauher Wange.
    »Und würdest du mir gefälligst deine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken, Dale? Was wir gemeinsam haben, das ist der schwärzeste, hoffnungsloseste, verschissenste Pessimismus. Stimmt’s?«
    »Okay, mir soll’s recht sein.«
    »Und das zweite, das wir gemeinsam haben, ist die schwärzeste, hoffnungsloseste, verschissenste … Mittelmäßigkeit.«
    Echte Furcht erfaßte Cassidy; echte sinnlose und kopflose Furcht.
    »Nein, Shamus, das ist nicht wahr, das ist ganz und gar nicht wahr. Du bist etwas Besonderes , Shamus, das wissen wir alle –.«
    »Du weißt es, nicht wahr, Lover?«
    Der Griff wurde noch härter.
    »Ich weiß es. Helen weiß es. Wir alle wissen es …« Cassidy war jetzt nicht mehr zu halten, in heller Angst legte er los; er klammerte sich an, in dem verzweifelten Willen zu überleben. Der Bentley versank im Fluß, Abalone Crescent sank in Trümmer. »Herrgott, du Idiot, du brauchst nur in ein Zimmer zu kommen, ihnen eine Geschichte erzählen, sie mit deinen Rattenaugen anschauen, und sie wissen , wir alle wissen, daß du es bist, Shamus; deine Welt. Du bist unser Chronist, Shamus, unser Magier. Du hast all das, was uns fehlt, die Wahrheit, den Traum, den Mumm. Okay, du bist unmöglich. Aber du bist der Beste! Du bringst uns Wirklichkeit, wir wissen , wie gut du bist!«
    »Weißt du’s?«
    Jetzt hatte Shamus Cassidys linken Arm gepackt; er hatte den Oberarm ins Schultergelenk geschraubt, und der Schmerz war wie das Wasser bei Lipp , überströmend und kriechend und kreischend, alles zugleich.
    »Shamus, du wirst ihn gleich brechen«, warnte Cassidy.
    »Laß ihn brechen. Glaubst du wirklich den ganzen Dreck, den ich dir erzähle? Hör zu, ich bin der lausigste beschissenste Taschenspieler im ganzen Laden, und du fällst auf jeden faulen Trick herein. Nietzsche, Schiller, Flaherty. Nie im Leben habe ich eine Zeile von diesen Scheißkerlen gelesen. Sie sind Ausschuß, Mist. Müll. Ich hole sie zum Frühstück aus dem Abfallhaufen, und ihr armen Arschlöcher haltet sie für einen Festschmaus. Ich bin ein Landstreicher . Du willst mich rausschmeißen, du Kinderwagenhausierer: ja, das willst du. Ich arbeite nicht, ich schreibe nicht, ich existiere nicht! Das Scheißpublikum wirkt das Wunder, nicht ich. Ich bin ein Betrüger . Kapiert? Ein Schwindler. Ein ausrangierter Taschenspieler, und mein Publikum besteht aus einem Menschen.«
    »Nein!« schrie Cassidy. » NEIN! NEIN! NEIN!«
     
    »Du glaubst, ich sei dein Freund.« Shamus hatte einen Platz zum Hinlegen gefunden, und Cassidy war gezwungen, sich neben ihm niederzulassen, teils um seine Worte zu verstehen, teils um nicht den Arm zu verlieren. »Aber ich will gar keinen beschissenen Freund. Ich weiß nicht einmal, was ich mit einem Freund anfangen sollte. Was mir fehlt, ist ein Archäologe. Ich bin Troja, kein verschissener Bankgehilfe. Neun tote Städte liegen in mir begraben, und eine ist verfallener als die andere. Und was tust du? Du stehst da wie ein verdammter Tourist und blökst: ›Nein! Nein! Shamus, nein.‹ Ja , Cassidy. Ja , Shamus ist ein Landstreicher . Hier hängt ein abscheulicher Gestank in der Luft. Weißt du, wonach? Nach Durchfall.«
    »Shamus«, sagte Cassidy ruhig. »Ich würde mein ganzes Vermögen für dein Talent herschenken.«
    »Sehr schön«, flüsterte Shamus und ließ ihn los, als die Tränen kamen, »sehr schön, Lover. Wenn ich so verdammt wunderbar bin, warum hast du dann meinen Roman abgelehnt?«
     
    Cassidys Welt drehte sich im Kreise und stand dann still.
    »Okay, Lover«, flüsterte Shamus, ergriff wiederum seinen Arm und verdrehte ihn stärker. »Ich bin dein Freund, vergiß das nicht.«
     
    Cassidy blickte in die wirren Augen, die so voll jäher Umschwünge und Chaos waren, blickte in sein ganzes eisernes, wildes Gesicht, auf die straffen Wangen und den lässigen Mund, und er stellte sich die beinah akademische Frage, wie ein Körper soviel enthalten und dabei zusammenhalten konnte. In seiner Selbstzerstörung schien, als er sich langsam noch immer Arm in Arm mit Cassidy hochrappelte, etwas Kosmisches enthalten zu sein; als hätte er in der Erkenntnis, daß das schöpferische Genie des Menschen auch die Ursache seines Untergangs ist, beschlossen, diese Wahrheit auf sich selber anzuwenden, sie zu seiner eigenen zu machen.
    »Das letzte hat er auch abgelehnt«, sagte Shamus und grinste unter Tränen. Und er ließ Cassidys Arm los und fiel in ganzer Länge rücklings auf das