Wachsam
Vorgänge in England nicht mehr recht auf dem laufenden«, sagte sie über seine Schulter hinweg. Sie schnitt ihm das Fleisch, damit er die Pistole nicht auslassen mußte. »Shamus hat Ihr Radio probiert, aber ich glaube, es ist leider kaputtgegangen, nicht wahr, Darling?«
»Macht nichts«, sagte Cassidy großzügig.
Er bot ihnen Kartoffelbrei an, aber sie lehnten ab.
»He, Cassidy«, sagte Shamus, der bei Helens Bemühungen auflebte, »wie findest du ihre Kochkünste?«
»Nun, hiernach zu urteilen, sind sie großartig«, sagte Cassidy. »Aber schließlich habe ich sie bereits in London genossen.«
»Kocht sie besser als die Leitkuh?«
»Viel«, log Cassidy herzlich.
Während Helen abservierte, tauchte Shamus in seine Rocktasche und brachte einen kleinen Lederband zum Vorschein, den er auf seinen Knien aufschlug. Er hatte das Format eines Tagebuchs, war aber dicker und hatte Goldschnittecken. Bei seiner Lektüre schien er auf besonders relevante Stellen zu stoßen, denn er strich sie mit dicker Tinte an, wobei er die Seiten mit der Pistole niederhielt.
»Sie ist geladen, nicht wahr?« fragte Cassidy und ließ seine Frage so beiläufig klingen, wie die Umstände es irgend erlaubten.
» Natürlich ist sie geladen«, rief Helen stolz aus der Küche. »Shamus hat nie im Leben eine Platzpatrone abgefeuert, nicht wahr, Darling?«
Der Wein, dachte Cassidy, er hat ihn dösig gemacht. Er hatte einen schweren Burgunder gewählt – die Flasche für achtundzwanzig Franken –, der berühmt war für seine einschläfernde Wirkung.
Während sie wiederum auf Helen warteten, gingen die beiden Männer hinaus auf den Balkon zum Zielschießen. Die Munition war kein Problem, denn die Taschen des Leichenfracks waren vollgestopft mit Patronen verschiedener Kaliber, und obwohl manche entschieden zu groß waren, schienen doch auch ziemlich viele zu passen.
Zunächst führte Cassidy auf Shamus’ Verlangen die Sicherung vor. »Sie ist hier«, sagte er und deutete darauf. »Man schiebt sie von sich weg.«
»Löst sich ein Schuß?«
»Nicht, wenn sie gesichert ist, natürlich.«
»Ist sie jetzt gesichert?«
»Nein, andersherum.«
Shamus richtete die Pistole auf Cassidys Kopf und drückte ab, aber nichts passierte.
»Und wenn ich so mache –?«
»Dann schießt sie. Shamus, sollten wir nicht warten, bis sich der Nebel lichtet?«
Der Nebel war tatsächlich noch dicker geworden; dahinter, nicht weit entfernt, konnte er den Regen hören und das geheimnisvolle Brummen landwirtschaftlicher Maschinen, das in den seltenen stillen Zeiten immer das Tal zu erfüllen schien. Während sie dort standen, spurten zwei Skifahrer, vermummt wie gespenstige Äbte, in Richtung auf die Bahnstation die Piste hinunter und verschwanden wieder, ihre Skier raspelten in dem wäßrigen Schnee. Shamus, der bereits auf sie gezielt hatte, als sie verschwanden, senkte die Pistole mit einem Ausruf des Ärgers und lugte nach einem anderen Wild.
»Welche Reichweite hat das Ding da überhaupt?«
»Ungefähr 36 Meter, wenn der Schuß sitzen soll. Aber sie tötet noch auf dreihundert.«
»Es ist keine Schnellfeuerpistole, wie?«
»Nein.«
»Ich habe versucht, Dumdumgeschosse zu kriegen, aber sie hatten keine.« Er brachte die Pistole wieder in Anschlag, diesmal zielte er auf einen Schornstein jenseits des Weges. »Sie liebt dich saumäßig.«
»Ich weiß.«
»Und du bist genauso scharf auf sie. Du schmachtest nach ihr in jeder Minute, die du von ihr getrennt bist. Du kannst gar nicht schnell genug einschlafen, um von ihr zu träumen, und nicht schnell genug aufwachen, um zu kommen und sie mir abzujagen. Weib und Kinder, Bentley, ist alles nichts neben deiner überwältigenden, alles verzehrenden, alles rechtfertigenden Leidenschaft für sie?«
Er wandte den Kopf und blickte Cassidy über den Lauf der erhobenen Pistole an.
»Armer alter Lover, was hätten wir anderes tun können? Konnten dich nicht dort draußen verschimmeln lassen, oder, ganz allein in der Kälte? Nicht nachdem wir unser ganzes verschissenes Leben lang genau nach dem gesucht hatten, was du gefunden hast. Ich meine … welcher Mensch würde zwanzig Jahre nach Gold graben und es nicht nehmen, wenn er auf eine Ader stößt? He?«
»Keiner.«
Shamus’ Blick war nicht von seinem Gesicht gewichen.
»Keiner«, wiederholte Cassidy.
»Heller Junge«, sagte Shamus und schenkte ihm ein plötzliches strahlendes Lächeln.
Er nahm seinen Arm und führte ihn in den Wohnraum
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