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Wachsam

Wachsam

Titel: Wachsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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Verbindung hatte geschehen können, daß die beiden ihre Kindheit im gleichen Hause verbrachten. Selbst wenn er auf diese Frage gekommen wäre, so hätte Helens Verhalten nur zu seiner Ratlosigkeit beigetragen. Sie war in ihrem Element: Die junge Schloßherrin war leichtfüßig ihrem Porträt entstiegen und zeigte ihnen ihr Besitztum. Jegliche Hemmung, die sie im Salon empfunden haben mochte, wurde durch den offensichtlichen Eifer, mit dem sie bei der Sache war, hinweggefegt. Abwechselnd feierlich, wehmütig, belehrend führte sie ihn mit liebevoller Vertrautheit durch das Labyrinth baufälliger Korridore. Cassidy hielt sich dicht hinter ihr, der Geruch von Baby-Seife und die Gegenschwingungen ihrer Hüften wiesen ihm den Weg; Shamus folgte in einigem Abstand mit Flasche und Laterne, er bewegte sich am Rande ihrer Unterhaltung oder rief ihnen rüde ironische Scherze nach. »He, Cassidy, sie soll Ihnen die Geschichte erzählen, wie Nanny Higgins und der Vikar es beim Dienerball getrieben haben.« In der großen Halle fand er einen Spieß und focht ein Schattenduell mit dem Geist seines Vaters aus; im Gewächshaus bestand er darauf, Helen einen blühenden Kaktus zu überreichen, und als sie ihn annahm, küßte er sie lange auf den Nacken. Helen nahm in ihrer heiteren Stimmung alles mit guter Haltung hin.
    »Es kommt vom Warten und der Ungewißheit«, erklärte sie Cassidy, während Shamus in der Krypta gregorianische Kirchengesänge psalmodierte. »Es frustriert ihn schrecklich.«
    »Bitte«, sagte Cassidy, »ich verstehe vollkommen. Wirklich.«
    »Ja, das glaube ich«, sagte sie und schenkte ihm einen Dankesblick.
    »Was will er jetzt anfangen? Einen Job suchen?« fragte Cassidy in einem Ton, der bestätigte, daß eine Anstellung für einen Menschen wie Shamus die letzte Stufe der Erniedrigung bedeute.
    »Wer sollte ihn haben wollen?« fragte Helen schlicht.
    Sie führte ihn überallhin. Im herabhängenden Dämmerlicht unter den ersten aufgehenden Sternen patrouillierten sie durch die bröckeligen Wehrgänge und bestaunten den leeren Burggraben. Sie standen ehrfürchtig vor wurmstichigen Himmelbetten, schmiegten sich in staubgefüllte Wandverstecke, streichelten stockfleckige Bespannungen und klopften gegen Paneele, die von Bohrkäfern durchsiebt waren. Sie besprachen das Heizungsproblem, und Cassidy sagte, kleinkalibrige Rohre richteten den wenigsten Schaden an. Sie überlegten, welche Räume mit geringen Änderungen abgetrennt werden, wie die neuen Leitungen unter den Fußleisten verlegt werden könnten und wie ein elektrischer Stromkreis als Sperrbahn wirke.
    »Macht aus dem Haus eine Trockenbatterie«, erklärte Cassidy. »Ist nicht billig, aber was ist heute noch billig?«
    »Sie verstehen schrecklich viel davon«, sagte Helen. »Sind Sie vielleicht zufällig Architekt?«
    »Ich liebe einfach die alten Dinge«, sagte Cassidy.
    Hinter ihnen sang Shamus mit gefalteten Händen das Magnifikat .

4
    »Sie sind ein reizender Mensch«, sagt Shamus gelassen und bietet ihm einen Schluck aus der Flasche an. »Sie sind wirklich ein ausgesprochen reizender Mensch. Sagen Sie uns, haben Sie irgendwelche allgemeine Theorien über das Wesen der Liebe?«
    Die beiden Männer befinden sich auf der Spielmanns-Empore. Helen steht unter ihnen, sie blickt aus dem Fenster, die lange Flucht der Kastanienallee entlang.
    »Ja, ich glaube, ich verstehe, wieviel Ihnen an dem Haus liegt. Wollen wir die Sache so fassen?« schlägt Cassidy vor.
    »Oh, aber für sie ist es noch weitaus schlimmer.«
    »Wirklich?«
    »Wir Männer, wissen Sie, wir sind die geborenen Überlebenden. Werden buchstäblich mit allem fertig, was? Aber sie, ehem, sie.«
    Sie wendet ihnen noch immer den Rücken zu: Das letzte Licht des Fensters scheint durch den dünnen Hausmantel und zeigt die Kontur ihrer Nacktheit.
    »Eine Frau braucht ein Heim«, verkündet Shamus philosophisch. »Autos, Bankkonten, Kinder. Wer’s ihnen wegnimmt, ist in meinen Augen ein Verbrecher. Ich meine, was sonst sollte sie ausfüllen? Sage ich immer.«
    Eine schwarze Braue hat sich leicht gehoben, und Cassidy hat das allerdings nicht besonders ausgeprägte Gefühl, Shamus mache sich irgendwie über ihn lustig, wobei ihm das Wie noch nicht klar ist.
    »Ich bin überzeugt, daß alles gut wird«, sagt Cassidy unverbindlich.
    »Sagen Sie, haben Sie jemals zwei zu gleicher Zeit gehabt?«
    »Zwei, was?«
    »Frauen.«
    »Leider nicht«, sagte Cassidy heftig schockiert; nicht wegen einer solchen Idee,

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