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Wachsam

Wachsam

Titel: Wachsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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ausgerechnet vor einem Arzt und seiner vortrefflichen Gattin. Warum mußt du solche Eierköpfe kennen?«
    Sie trocknete sich die Augen und sah den Beamten an einem Tisch neben der Tür bei Schnaps und Kaffee sitzen.
    »Was zum Teufel hat der hier zu suchen?« fragte sie. »Er soll doch auf den Zug warten.«
    Außer Dienst war der Beamte ein völlig anderer Mensch. »Hallo«, rief er und hob sein Glas. »Hallo. Cheerio. Hallo. Ja , bonjour .«
    »Cheers«, sagte Cassidy. »Sie sprechen englisch, ja? Sehr gut. Très bon.«
    »Kein Zug«, sagte der Beamte mit großer Befriedigung und trank. »Zuviel Schnee.«
    Wieder trank er, als könne ein weiteres Schlückchen vom gleichen Stoff ihm nicht schaden. Während er trank, trat er zu ihnen, zu einer Unterhaltung aufgelegt; er ragte sehr groß und sehr betrunken vor ihnen auf, und seine Augen sahen nur Helen, nicht Cassidy, so daß es fast eine Erleichterung war, als der Pistolenschuß knallte.
    Weit und breit gab es kein anderes Geräusch. Es handelte sich keineswegs darum, diesen Knall von anderen Tönen zu unterscheiden: von einer Tür, die zufiel, einer Fehlzündung, einer Schindel vom Bahnhofsdach. Der Schnee hatte eine Decke über alles geworfen; nur Pistolen waren ausgenommen. Außerdem fiel der Schuß in der Nähe. Natürlich nicht im Bahnhofsbüfett; aber nicht weit entfernt, und darauf folgte markerschütterndes Geheul, halbwegs zwischen Schmerz und Wut; ein langgezogenes Hundegeheul von der Art, wie es traditionsgemäß über öde Marschen geistert und schließlich (genau wie dieses Geheul) mit einem würgenden, gequälten Schluchzen endet, verendet; ein Geheul, das einem das Blut in den Adern gefrieren und betrunkene Eisenbahner mitten in der Bewegung anhalten ließ.
    »Mein Gott«, bemerkte er mit der Betonung auf dem Possessivpronomen, »ich glaube, sie haben die Ziege erschossen.«
    Er lachte noch immer über diesen geistreichen Doppelsinn, als Cassidy an ihm vorbei auf den Bahnhofsvorplatz rannte.
     
    Der russische Schnee wirbelte wie irre durch die Strahlen der Streckenlaternen hinab. Das Gleis war zugedeckt. Eine Straße, ein Pfad, ein Zaun, ein Haus, und schon wurden sie unter einer neuen Generation begraben. Ich bin Troja. Sieben beschissene Kulturen liegen in mir begraben, eine immer noch verrotteter als die andere. Sogar die nächstgelegenen Gebäude sanken in sich zusammen. Der Zeitungskiosk lag auf den Knien; die Augen des Angelhorn-Hotels waren geschlossen und blutig; auf der Dorfstraße war kein Laden, kein Gotteshaus und kein Eispalast, an dessen Tür nicht der gnadenlose Schnee polterte, Dächer auslöschte, sich auf den Vorplätzen tummelte. Cassidy hielt die Hand vor die Augen und blickte wild um sich. Fußspuren, dachte er; nach Fußspuren suchen. Nur seine eigenen waren zu sehen.
    »Shamus!« rief er laut. Und noch einmal »Shamus!«
    Zu spät strengte er seinen Verstand an, blickte zurück zum Büfettfenster und versuchte sich zu erinnern, von woher der Knall gekommen war, als sie drinnen saßen. Helen taumelte auf ihn zu, in den Schafspelz gewickelt. Herrgott, dachte er, sie hat ihn doch tatsächlich angezogen, ehe sie herauskam, um nach ihm zu sehen. Hinter ihr lugte der uniformierte Eisenbahner, der sich nicht so weit vorwagte, durch die Tür; er hielt noch immer das Glas in der Hand. »Such du dort drüben«, gebot er ihr und wies auf einen Holzhof, wo ein sehr alter Jeep langsam im Boden versank. »Such nach Fußspuren, ruf seinen Namen.«
    »Was hat er getan?« flüsterte sie. »Cassidy, was hat er getan?«
    »Stimmt etwas nicht?« fragte eine englische Dame, die hinter dem Bahnbeamten stand. »Mir war, als hätte ich einen Knall gehört.«
    »Sagen Sie«, sagte eine andere, »haben Sie dieses Geräusch gehört?«
    Helen rührte sich nicht. Sie preßte den Mantel eng an den Körper. »Geh und suche!« schrie er.
    O Herrgott, sie ist starr vor Schreck; deshalb hat sie den Mantel angezogen, sie wollte Zeit gewinnen. Er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie; ihr Kopf fiel blöde von einer Seite zur anderen.
    »Er schlägt sie«, sagte eine Engländerin.
    »Armes Ding, sie ist in anderen Umständen«, sagte die taube Dame, während sie alle in den Schnee herauskamen.
    »Wir haben ihn getötet«, flüsterte Helen.
     
    Er ließ sie stehen, rannte in den Holzhof und rief Shamus’ Namen. Er rannte jetzt direkt in das Schneetreiben, er mußte den Kopf senken, um überhaupt etwas zu sehen.
    Er war in eine Schneewehe geraten, der

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