Wächter des Mahlstroms
Kleidungsstückes erklären läßt, das Ihr Bruder ergreifen konnte, ehe er starb; seine vier Leibwächter waren Tellurier mit Ledergürteln und Holstern für Strahlpistolen.«
»QX.« Vesta nahm eine Schere zur Hand, die ihr jemand reichte, und begann winzige Stoffstücke abzuschneiden. Sobald die Fetzen zu fallen begannen, wurden sie in der Luft von einem Veganer oder einer Veganerin aufgefangen, die sofort davonlief. Zugleich stellten sich andere Veganer in einer langen Reihe auf, eilten an Vesta vorbei, schnüffelten kurz an dem Stoff und hasteten auf die Straße hinaus. Cloud setzte seinen Wahrnehmungssinn außerhalb des Gebäudes ein und erkannte, daß der gesamte Fahrzeugverkehr zum Stillstand gekommen war. Ein Veganer stand auf dem Bürgersteig und hielt ein Stück Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger. Alle Passanten – ob zu Fuß oder in einem Fahrzeug – hielten kurz neben ihm an, schnüffelten an dem Tuch und gingen dann äußerlich unbeteiligt ihrer Wege.
Cloud vermochte jedoch in Vestas Geist zu lesen und wurde so bleich, wie es seine Bräune zuließ. In weniger als einer Stunde würde fast jeder Veganer in der acht Millionen Köpfe zählenden Stadt den Duft des Mörders kennen und überall nach ihm suchen – und wenn der Mann gefunden wurde ...
Der Saal war leer bis auf die beiden Veganer und die sechs Tellurier. Vesta wirkte steif und verkrampft; sie hatte ihren Schwanz eng um den Körper gewickelt.
»Können denn die Leute so schnell einen verläßlichen Duft aufnehmen?« erkundigte sich Cloud.
»Aber natürlich.« Vestas Stimme war tonlos und rauh. »Wie lange dauert es, bis man weiß, daß ein Ei, das man essen wollte, verdorben ist? Der Mann, der dieses Hemd getragen hat, ist ein erstklassiger Stinker – sein Duft ist überall sofort erkennbar.«
»Aber was das übrige angeht – darauf sollten Sie verzichten! Überlassen Sie das dem Gesetz!«
»Das Gesetz kommt erst an zweiter Stelle. Der Mann hat meinen Bruder umgebracht. Es ist also mein Recht, ihn zu töten ...«
Cloud spürte plötzlich, daß Joan in seinen Geist eingedrungen war.
»Hast du mitgehört?« fragte er.
»Mehr oder weniger. Wir beide sind eins – das weißt du.«
»Außerdem«, fuhr Vesta fort, »außerdem ist das Gesetz rücksichtsvoll. Wenn nach dem Gesetz jemand hingerichtet wird, tritt der Tod sofort ein. Unter meinen Klauen und Zähnen wird der Schweinehund noch stundenlang leben – hoffentlich einen ganzen Tag lang!«
»Aber Wachtmeister, können Sie denn nichts unternehmen?«
»Nichts. Das Gesetz kommt erst in zweiter Linie. Wie sie gesagt hat, ist es ihr volles Recht.«
»Aber so etwas ist doch Selbstmord, Mann – reiner Selbstmord, und das wissen Sie auch!«
»Nicht unbedingt. Sie arbeitet ja nicht allein. Ob sie die Suche überlebt oder nicht – es ist und bleibt ihr Recht, den Mann zur Rechenschaft zu ziehen.«
Cloud schickte einen Gedanken los: »Nordquist – Sie können diese Sache unterbinden, wenn Sie wollen. Tun Sie's!«
»Ich kann es nicht – und das wissen Sie ganz genau. Die Patrouille kann und wird sich nicht in rein planeteninterne Angelegenheiten einmischen.«
Cloud vermochte seinen Zorn kaum noch zu zügeln. »Sie haben also die Absicht, dieses Mädchen mit bloßen Händen gegen vier schießwütige DeLameter-Schützen anrennen zu lassen?«
»Richtig. Die Patrouille kann nichts dagegen machen. Wenn wir uns hier einmischen, hätte das zur Folge, daß die Hälfte der Planeten der Zivilisation gegen die Patrouille aufbegehren würde. Das wäre ein Rückschritt um fünfhundert Jahre!«
»Nun denn – ich bin zwar auch eine Art Patrouillenoffizier, aber ich kann trotzdem etwas unternehmen!« grollte Cloud. »Und bei Gott, ich tu's!«
»Wir werden etwas unternehmen – das wolltest du doch sagen!« schaltete sich Joan energisch ein. Doch zweifelnd fuhr sie fort: »Aber nur, wenn du dabei nicht in Gefahr kommst.«
»Was wollen Sie denn machen?« erkundigte sich Nordquist scharf. »Oh, ich verstehe ... und da Sie nicht nur Patrouillenoffizier, sondern auch Veganer sind, der anerkannte Freund des Toten und seiner Schwester ...«
»Wer ist Veganer?« wollte Cloud wissen.
»Sie – und die anderen fünf aus Ihrer Gruppe ebenfalls. Das hätte man Ihnen eröffnet, wenn die Feier nicht abgebrochen worden wäre. Ehren-Veganer auf Lebenszeit.«
»Also, davon habe ich ja noch nie gehört!« rief Joan. »Und ich habe diese Leute jahrelang studiert!«
»Nein – davon konnten Sie auch nicht
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