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Während ich schlief

Während ich schlief

Titel: Während ich schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Sheehan
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mich anzukleiden und hübsch zu machen, manchmal mehrmals am Tag, sodass ich mir nie Gedanken um mein Aussehen hatte machen müssen. Und in den vergangenen Wochen war ich so kaputt von der Stasis-Erschöpfung und dem Kulturschock gewesen, dass ich es mir gar nicht erst angewöhnt hatte, in den Spiegel zu sehen. Ich sah genug von mir, um mir die Zähne zu putzen und die Haare zu kämmen, und das war’s. Hier aber, allein und einigermaßen erholt, betrachtete ich mich zum ersten Mal eingehend in meinem seidenen Pyjama.
    Kein Wunder, das Bren mich für ein Gespenst hielt. Ich war immer noch ziemlich ausgemergelt. Die knapp zwei Monate seit meiner Befreiung aus der Stasis hatten nicht ausgereicht, um meine Muskeln zu kräftigen. Meine Wangen waren eingefallen. Gute Shampoos und Vitamine hatten zwar die glänzende blonde Mähne, an die ich mich erinnerte, einigermaßen wiederhergestellt, aber ich war nach wie vor sehr bleich. Meine Augen machten mir Angst. Die stillen braunen Teiche meiner Kindheit waren zu schattendunklen Höhlen geworden, die Dämonen verbargen. Ich schluckte. Dann kramte ich in meiner Tasche, holte einen Kohlestift heraus und begann dieses grauenerregende Gesicht zu zeichnen, das mir entgegenstarrte. Auch das wollte ich verstehen, also zeichnete ich.
    Es war mein erstes Selbstporträt, seit Bren mich gerettet hatte. Was ich sah, gefiel mir nicht. Otto hatte recht. Da klafften Löcher hinter meinen Augen.



B eim Abendessen ging es ruhig und freundlich zu. Es gab die Regel, dass jeder etwas über seinen Tag sagen sollte. Mr. Sabah beklagte sich gutmütig darüber, dass er ein neues Kellerschloss programmieren musste. Hilary hatte einen neuen Level bei einem Holospiel erreicht. Kayin hatte angefangen, zum dritten Mal den Pferderoman Misty of Chincoteague zu lesen. Bren berichtete grinsend, er habe gegen einen erbarmungslosen, unbesiegbaren Feind gekämpft, der finster entschlossen gewesen sei, mich zu vernichten. Kayin lachte, bis Hilary sagte: »Nein, Kayin, das stimmt wirklich.«
    Dann war ich an der Reihe. »Wer, ich?«
    »Du sitzt mit am Tisch. Das sind die Regeln«, sagte Kayin.
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Heute bin ich mit einem Streckstab gelähmt worden. Heute bin ich zusammengebrochen und habe jemandem von Xavier erzählt. Heute leide ich immer noch an Restverliebtheit in einen Jungen, der mich nicht will. »Heute habe ich ein Selbstporträt gezeichnet«, sagte ich schließlich.
    Bren sah mich nachdenklich an.
    Mrs. Sabah war nach mir dran. »Heute habe ich euren Großvater davon abgehalten, sich ein Aneurysma beim Anschreien von Polizisten zuzuziehen. Wer hat Lust auf Nachtisch?«
    Nach dem Essen sahen wir uns einen alten Film auf dem Holoviewer an. Alt für die anderen, heißt das, ich kannte ihn natürlich nicht. Es gab Holofilme aus sechzig Jahren zu entdecken,
von denen ich noch nicht mal die Titel gehört hatte. Der erste echte Vorteil meines sechzigjährigen Zeitsprungs, fand ich.
    Als der Film zu Ende war, brachte Bren mich und Zavier zu Hilarys Zimmer. Es war mir ein bisschen unangenehm, aber meine Eltern hatten mir beigebracht, ein charmanter Gast zu sein. »Ich hatte wirklich einen sehr schönen Abend. Danke.«
    »Gut«, sagte Bren.
    Ich wollte noch etwas loswerden. »Deine Mutter sagt, dass es deine Idee war, mich einzuladen. Das hättest du nicht tun müssen.«
    »Doch, ich finde schon.« Bren wirkte verlegen, richtete sich aber entschlossen auf. »Weißt du, ich war ja nur so wütend auf dich, von wegen Schuldgefühle machen und so, weil ich wirklich ein schlechtes Gewissen hatte. Ich war unzumutbar grob zu dir, und was ich gesagt habe, stimmte noch nicht mal. Also, es stimmt zwar, dass Großvater mich gebeten hat, ein Auge auf dich zu haben, aber ich war sofort einverstanden. Ich meine, du kennst ja wirklich keine Menschenseele hier. Ich hätte mich wahrscheinlich auch ohne ihn bemüht, nett zu dir zu sein. Außerdem wollte Otto dich kennenlernen.«
    »Ehrlich? Gleich zu Anfang?«
    »Ja. Was glaubst du, weshalb er dir zuerst nicht ins Gesicht sehen wollte?«
    »Ich dachte, er wäre schüchtern.«
    »Nee, er hat nur mitgekriegt, dass er die Leute verunsichert, deshalb wollte er erstmal abwarten, bis du schön fest auf deinem Platz sitzt, bevor er sich zeigt. Eigentlich ist er ziemlich frech. Macht sich gern mal einen Spaß daraus, andere zu erschrecken. Er hat nicht viele Freunde, aber schüchtern ist er kein bisschen.«
    »Ach so.« Otto hatte nicht viele Freunde?

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