Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Während ich schlief

Während ich schlief

Titel: Während ich schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Sheehan
Vom Netzwerk:
dann –, hat
er dir geschadet. Er hat dir etwas sehr Wertvolles und Unersetzliches genommen: Lebenszeit.«
    Mir wurde schwindelig. Ich merkte, worauf er hinauswollte, und es gefiel mir nicht. »So ... so habe ich das noch nie gesehen.«
    Ron lächelte. »Ich weiß«, sagte er, und es klang unerwartet mitfühlend. »Wenn heute ein Erziehungsberechtigter ein minderjähriges Kind in Stasis versetzen will, muss er einen Antrag bei der Behörde stellen und ein beeidigtes ärztliches Gutachten beibringen, das begründet, warum die Stasis absolut notwendig ist, und oft auch eine Antragsgebühr bezahlen, mit der Eltern davon abgehalten werden sollen, so etwas leichtfertig zu unternehmen. Kinder mit lebensbedrohlichen chronischen Krankheiten werden manchmal in Stasis versetzt in der Hoffnung, sie am Leben zu erhalten, bis eine Heilmethode gefunden wurde. Nur in solchen Fällen und für junge Patienten, die eine Organtransplantation benötigen, wird Stasis auf der Erde für Minderjährige überhaupt erlaubt.«
    Etwas fing in meiner Brust an zu flattern, ein verängstigter Spatz. Meine Hände zitterten. »Ich verstehe immer noch nicht.«
    Brens Großvater fuhr unnachgiebig fort. »Stell dir vor, ein Elternteil fühlt sich überfordert. Das Baby hat den ganzen Tag geschrien. Alles, was er oder sie möchte, ist ein Nickerchen von einer halben Stunde. Alle Eltern kennen das. Die Betreffenden versetzen ihr Kind in Stasis, bis sie glauben, besser mit der Situation umgehen zu können. Statt einen Babysitter zu engagieren, statt ihren Tagesplan umzuorganisieren, statt sich einzugestehen, dass sie Hilfe brauchen. Aus Bequemlichkeit. Einmal, als Ausnahme, mag immer noch besser sein als eine Misshandlung, zugegeben. Man denkt sich nichts dabei. Doch nun ist das Kind zwei oder drei. Die Eltern wollen eine Party
geben, und das Kind wäre nur lästig, weil es ständig im Weg wäre. Tu sie in Stasis bis nach dem Fest. Dauert ja nicht lange. Aus Bequemlichkeit. Dann wollen sie in den Urlaub fahren.«
    Ich wollte aufspringen und ihn zum Schweigen bringen, doch ich fürchtete, meine Beine würden mich nicht tragen.
    »Romantische zweite Flitterwochen«, sagte Ron. »Eine Fünfjährige dabeizuhaben, würde die Stimmung verderben. Ab in die Stasis. Die Tochter ist dreizehn, sie möchte bei einer Schulexkursion mitfahren und streitet sich mit ihrer Mutter deswegen. Unerträglich. Ab in die Stasis, bis die Exkursion vorbei ist. Problem gelöst.«
    Er legte bedacht beide Hände auf den Schreibtisch und beugte sich ein Stück vor. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen, aber er ließ nicht locker. »In die Stasis mit ihr, wenn man müde ist. In die Stasis mit ihr, wenn man zu viel zu tun hat. In die Stasis mit ihr, wenn sie quengelt. Wenn sie einen langweilt. Wenn sie nicht tut, was man von ihr verlangt. Auf einmal sind die Eltern zehn, zwölf, zwanzig Jahre älter ... und das Kind ist immer noch ein Kind.«
    Ich hasste ihn. Er erzählte mir mein Leben. Ich wollte ihn schlagen. Ich wollte ihm wehtun. Ich wollte, dass dieses Gefühl in mir wegging. Ich bekam keine Luft. Mir war, als stünde ich am Rand einer hohen Klippe, und ich bebte am ganzen Leib.
    »Rosalinda.« Rons weiche, tiefe Stimme klang etwas zittrig vom Alter, aber sehr freundlich. »Der Hubschrauberabsturz, bei dem Mark und Jacqueline Fitzroy starben, ereignete sich vor zweiunddreißig Jahren – über neun Jahre, nachdem die Dunkle Epoche offiziell zu Ende war.« Da sah ich ihm ins Gesicht, unfähig, seine Worte zu begreifen. »Sie taten es nicht, um dich zu retten. Sie haben dich nie herausgeholt«, sagte er, und seine Stimme war kaum noch ein Flüstern. »Sie haben dich nie losgelassen. Sie haben dich nie erwachsen werden lassen.«

    Ein Moment der Stille, der Dunkelheit folgte, und ich hätte schwören können, dass ich in diesem Moment starb.
    »Nein, nein, nein!«, schrie mir jemand ins Ohr. »Niemand wusste, dass ich dort war! Alle sind gestorben!« Ich wünschte, sie würde den Mund halten; ich versuchte, mich in der Dunkelheit zu orientieren. Ich machte die Augen auf und sah eine seltsame junge Frau unter mir, die mit abwehrend erhobenen Fäusten auf dem Parkettboden stand. Der alte Mann saß an seinem Schreibtisch und betrachtete sie aufmerksam, sein Blick ernst, und Bren stand mit dem Rücken zur Wand, beinahe furchtsam, sein Gesicht so bleich, dass sein mahagonifarbener Teint einen Milchkaffeeton angenommen hatte. Da merkte ich, dass die Stimme mir gehörte. »Sie haben

Weitere Kostenlose Bücher