Während ich schlief
ENKELSOHN MEINES ALTEN FREUNDES VERLIEBT HABE. Ich legte den Screen ab und sah zu ihm hinüber. »Meines uralten Freundes, könnte ich hinzufügen«, sagte ich laut und vergrub wieder meinen Kopf zwischen den Händen.
Ich hörte, wie Otto sich bewegte, dann bimmelte mein Screen wieder. Ich sah auf. Jetzt saß er mir gegenüber, blickte aber auf sein Gerät. DAS IST ES, WAS DIR BESONDERS ZU SCHAFFEN MACHT, STIMMT’S? DIESE SACHE MIT XAVIER.
»Ja, schon«, gab ich zu.
DESHALB BIST DU DAVONGESTÜRMT.
»Gott, Bren hat dir aber auch alles erzählt, was?«
ER HAT ERKANNT, DASS MEINE SORGE ECHT IST.
Ich schüttelte den Kopf, froh, dass er meine Gesten diesmal sehen konnte. »Warum? Was siehst du in mir?«
Er richtete seine forschenden Augen auf mich. ICH KÖNNTE VERSUCHEN, ES DIR ZU ZEIGEN, WENN DU MÖCHTEST, tippte er dann. ICH BIN ES NICHT GEWOHNT, WORTE FÜR SO ETWAS ZU FINDEN. ES IST NICHT SO EINFACH, DASS ICH ES IN EINEN LOCKEREN SATZ FASSEN KÖNNTE. Er hielt kurz inne. ODER AUCH IN EINEN ERNSTEN, AUFRICHTIGEN SATZ.
Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Er hatte recht, manche Gefühle ließen sich nur schwer mit Sprache
ausdrücken. Ich könnte vielleicht ein Bild malen, das ein ähnliche Wirkung erzielte, aber es hätte trotzdem nicht genau die gleiche Bedeutung. Als ich ihn anschaute, begann er wieder zu schreiben.
WARUM UNTERHÄLTST DU DICH IMMER WIEDER MIT MIR? VIELLEICHT LIEGT DIE ANTWORT DARIN.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Du bist interessant und anders, jeder wäre neugierig.«
WENN DU NUR NEUGIERIG WÄRST, HÄTTEST DU MEIN ANGEBOT ANGENOMMEN UND DIR MEINE MEDIZINISCHEN DATEN ANGESEHEN, schrieb er. Er schrieb sehr viel schneller als ich, aber er hatte auch mehr Übung. DAS MACHEN DIE MEISTEN. EINE MENGE ÜBER MICH IST IN VERÖFFENTLICHUNGEN ZU FINDEN, IN EINEM DUTZEND WISSENSCHAFTSMAGAZINEN IM NETZ. GANZ ZU SCHWEIGEN VON ALL DEN UNICORP-DATEIEN, ZU DENEN DU ZUGANG HÄTTEST. ABER DU HAST DICH AN MICH GEHALTEN, NICHT AN SIE.
»Das stimmt«, flüsterte ich. »Ich fühle mich ... ich habe es ernst gemeint, als ich sagte, ich möchte deine Familie sein. Mir kommt es vor, als wäre ich es schon.«
DU HAST KEINE ANDERE FAMILIE.
»Hatte ich aber mal. Sie haben mich geliebt.«
Otto sah von seinem Screen auf, ohne ein weiteres Wort zu schreiben. Doch ich konnte es in seinen Augen lesen. Gelb. Nicht menschlich. Seine DNS zerstückelt und zusammengeflickt zu einem außerirdischen Monstrum ohne Heimat, ohne Familie, ohne biologische Zugehörigkeit. Haben sie dich geliebt?, fragten seine Augen. Wirklich? Oder haben sie dich auf die Weise geliebt, wie UniCorp mich liebte?
»Warum hast du dich um das Stipendium beworben?«, fragte ich ihn, die unausgesprochene Frage ignorierend.
Verwundert zog er seine Augen zu Schlitzen zusammen. Der
Gedankensprung war wohl wirklich etwas krass. UM FREI ZU SEIN. Kurzes Zögern, dann: WARUM?
»Ich habe auch einmal ein Stipendium erhalten.« Es schmerzte mich, es zu sagen. »Für die Hiroko-Kunstakademie. Vor zweiundsechzig Jahren.«
WARUM BIST DU NICHT HINGEGANGEN?
»Ich bin stattdessen in Stasis gegangen.«
WOLLTEST DU DAS?
Das war die Frage, die ich immer wieder vermieden hatte, seit ich aus der Stasis heraus war. Die Antwort verursachte mir Übelkeit. »Ja«, sagte ich leise.
WARUM?
Ich stand auf, warf meinen Screen beiseite. »Warum fragst du ständig warum?«, verlangte ich zu wissen.
Otto sah mich streng an und machte ein paar schnelle, komplizierte Handbewegungen, die ich nicht verstand.
»Was?«
Er gab einen gereizten, delphinartigen Laut von sich, nahm seinen Screen und drückte ihn mir gleich darauf in die Hand. WEIL DU MIR WICHTIG BIST! , las ich.
Ich ließ den Kopf hängen. »Warum?«
Wieder bewegte er die Hände. Ich kannte diese Sprache nicht, aber sie war wunderschön. Er wiederholte dieselbe Abfolge von Gesten. Er hielt mir die Handfläche hin, richtete dann die beiden Zeigefinger gegeneinander, klopfte sich auf den linken Handrücken und legte die Rechte aufs Herz. Das verstand ich ohne Weiteres. Dein Leid berührt sich mit meinem.
Doch unser Leid war so verschieden. Seines war ihm aufgezwungen worden. Meines hatte ich selbst gewählt. »Ich habe Xavier wehgetan«, sagte ich. »Ich habe ihm das Herz gebrochen. Ich habe es ausgenutzt, dass ich ihn so gut kannte, und habe aus seiner Liebe zu mir eine Waffe gemacht, um ihn zu
vertreiben. Deshalb wollte ich in Stasis gehen. Deshalb wurde ich vergessen.
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