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Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Titel: Wahnsinn, der das Herz zerfrisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Clique des Prinzregenten, die unter anderem auch die Dauer der Landaufenthalte bestimmte, fernhielt, hatte Augusta ihren Bruder bei diesen kurzen Gelegenheiten nie treffen können.
    Doch jetzt hatte sie sich mitten in der Saison frei machen können und Kinder, Schulden und Six Mile Bottom hinter sich zurückgelassen. Sie war eigentlich weniger auf das Großstadtleben gespannt als auf ihren berühmten Bruder. Sie hatte natürlich ständig von ihm gehört, nicht nur vom Erfolg der Verserzählungen, sondern auch von Lady Caroline und Lady Oxford und zahlreichen anderen Damen, mit denen er gerüchteweise in Verbindung gebracht wurde. Nach Lady Oxfords Abreise war Lady Jersey als neue Mätresse des berüchtigten Lords ins Gespräch gekommen, bis einmal mehr Caroline Lamb alle Aufmerksamkeit auf sich lenkte.
    Nach ihrer Rückkehr aus Irland hatte sie Gesellschaften, auf denen sie Byron hätte begegnen können, zunächst gemieden.
    Doch kaum hörte sie von Lady Oxfords Reise nach Sizilien, da erschien sie schön, blaß und tragisch auf einer der glanzvollsten Soirees der Saison 1813 und stieß sich nach einem kurzen, heftigen Wortwechsel mit ihrem ehemaligen Liebhaber vor allen Anwesenden das Messer in die Brust. Sie war aus dem einen oder anderen Grund nicht schwer verletzt, doch momentan sprach man von nichts anderem. Armer Byron, dachte Augusta.
    Und wenn ich fünfzig Mätressen hätte, ich würde sie alle am nächsten Tag vergessen haben. So glaubte er. Aber die Wirklichkeit gebärdete sich rebellisch und sah etwas anders aus - sie ließ sich nicht vergessen.
    Augusta, die ihren Bruder überraschen wollte, kam einen Tag früher in seiner Wohnung in der St. James Street an. Sie hatte nicht vergessen, wie nervös sie damals bei den Howards auf Hanson und seinen Schützling gewartet hatte - immer mit Blick auf die Uhr. Das sollte diesmal anders werden. Als sie jedoch vor der Eingangstür stand, zögerte sie einen Augenblick. Was, wenn sie nun nicht willkommen war? In diesem Fall, entschied sie, würde sie eben gleich in ihr winziges Appartement im Palast übersiedeln.
    Auf ihr Klopfen öffnete Byrons treuer Kammerdiener. Fletcher betrachtete sich noch als vollkommener Diener der alten Schule und brachte die unbekannte Dame, die irgendwie seinem Herrn ähnelte, sofort mit dem für morgen erwarteten Besuch in Verbindung.
    »Mrs. Leigh!« rief er überrascht und fuhr in seinem normalen, gesetzten Tonfall fort: »Ich darf Sie bitten, einzutreten.« Augusta ließ sich von ihm das Arbeitszimmer ihres Bruders zeigen und machte unterwegs nur halt, um Byrons Neufundländer (ein Nachfahre von Boatswain) zu streicheln. Sie liebte Hunde und besaß selbst einen. Schließlich kam sie in den Raum, der offensichtlich auch als Bibliothek diente (ein Gutteil der Bücher befand sich auf dem Boden zerstreut). Sie achtete sorgfältig darauf, keinen falschen Schritt zu tun, und schlich auf Zehenspitzen zu der Gestalt am Schreibtisch, von der sie im Augenblick nur den Rücken und den vornübergeneigten Kopf sah. Sie wartete einen Moment, dann legte sie ihm die Hände auf die Augen. Eine Ewigkeit lang blieb es still, und aus irgendeinem Grund hatte sie plötzlich vor der Vorstellung Angst, er könnte eine seiner Carolines, Oxfords, Jerseys erwarten.
    »Augusta.«

1813-1814
     
    »Ich war gezwungen, sogar die Sekunden zu pflücken -
    denn wer kann schon auf morgen hoffen?
    wahrlich morgen erst?
    Jede Minute - «
     
    Byron war entzückt, Augusta wiederzusehen.
    Zu seiner Schande mußte er gestehen, daß er sich kaum noch an ihr Aussehen erinnern konnte - nur verschwommen ließen sich einzelne Gesichtszüge in sein Gedächtnis zurückrufen. Jetzt entdeckte er sie neu. Augusta trug ein unauffälliges dunkles Reisekleid; mit ihrer Taille hätte sie ohne weiteres eine der alten Roben des Ancien régime, die mit ihren Reifröcken die Damen zu ständigen Hungerkuren zwangen, tragen können. Er konnte kaum glauben, daß sie drei Kinder geboren hatte. Als sie die Arme hob, um ihren Hut abzunehmen, merkte Byron, daß er ihr eigentlich einen Platz anbieten müßte.
    Er blickte sich suchend um, aber was in diesem Raum an Sitzgelegenheiten vorhanden war, war mit Reitjacken, Soda- und Whiskyflaschen oder Büchern belegt. Seine Schwester erfaßte die Situation schon etwas früher und ließ sich ohne viele Umstände inmitten der Unordnung auf dem Teppich nieder. Ihr Hut kam dabei auf einer Gedichtsammlung seines Freundes Thomas Moore zu liegen. Sie reckte sich

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