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Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Titel: Wahnsinn, der das Herz zerfrisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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inzwischen gemerkt haben, daß ich das idiotischste Wesen von der Welt bin - nimm mich einfach nicht ernst!« Plötzlich schlang sie ihre Arme um die widerstrebende Annabella und berührte mit den Lippen die Stirn ihrer Schwägerin. »Aber ich freue mich wirklich, dich hier zu haben!« Annabellas Zurückhaltung löste sich. Sie dachte an all die verständnisvollen Briefe, die Augusta ihr geschrieben hatte, und lächelte. »Ich… ich bin auch glücklich.« Zu ihrem Entsetzen spürte sie Tränen in sich aufsteigen. »Ich brauche doch so sehr… eine Schwester.« Impulsiv küßte Augusta sie noch einmal, nahm ihr Kinn in beide Hände und sagte ernst: »Du bist meine Schwester, Annabella. Als ich dir das schrieb, habe ich es so gemeint.«
     
    Sie kehrten zusammen in den großen Salon zurück, wo Byron auf sie wartete. Die Nanny hatte Augustas Kinder inzwischen weggebracht. Er kommentierte ihr gemeinsames Erscheinen mit den Worten: »Die beiden As!«
    »Wie bitte?« fragte Annabella verblüfft. »So haben Lady Melbourne und ich euch genannt - ihre A und meine A.« Byron zog die Augenbrauen hoch. »Allerdings dachte ich damals nicht, daß ich euch einmal so sehen würde.« Ironisch setzte er hinzu: »Du warst vorhin etwas kühl zu Bell, Augusta.« Annabella protestierte: »Das ist ungerecht - sie hätte nicht freundlicher sein können.«
    Augusta ging überhaupt nicht darauf ein und erkundigte sich trocken, ob sie eine gute Reise gehabt hätten. Sie strich eine widerspenstige Locke zurück und erklärte, zu Annabella gewandt:
    »Hör zu, ich weiß, was es heißt, mit dem Schuft da in einer Kutsche zu sitzen. Wenn er dich stört, wirf ihn einfach einem der Raubtiere vor, die ihr im Gepäck mitführt.« Die verwirrte Annabella wußte nichts darauf zu antworten, wurde aber von ihrem Ehemann dieser Notwendigkeit enthoben. »Hast du ein bestimmtes Tier im Auge, Gus?« Augusta musterte ihn von oben bis unten. »Weißt du, du hast abgenommen, mein Lieber.
    Der Bär kommt nicht mehr in Frage, wende dich also an die Hunde.«
    Auf diese Art sprachen sie den ganzen Nachmittag und beim Dinner. Annabella begann wider Erwarten, Gefallen an der Unterhaltung zu finden. Sie war entspannt und zum erstenmal seit langer Zeit nicht vor die Frage gestellt, was als nächstes zu tun oder zu sagen war. Schließlich kam sie zu dem Schluß, daß darin das Geheimnis von Augustas Charme liegen müssen, denn sie war bestimmt keine Schönheit.
    Byron wirkte wie verwandelt in Augustas Gegenwart. Kein Gedanke an finstere Gewissenserleichterungen (»ich muß dir von Thyrza erzählen…«) oder düstere Wahnvorstellungen - wenn man ihn sah, hätte man meinen können, er habe nie auch nur eine einzige bösartige Idee im Kopf. Er scherzte auf gutmütige Art über Annabellas Studien und lobte ihre Gewissenhaftigkeit; als Augusta nach Annabellas Schneiderin fragte, machte er ihr ein Kompliment über ihr Kleid. Das ging so lange gut, bis Annabella versuchte, das Gespräch auf etwas ernstere Themen zu lenken.
    »Ist es nicht schade«, sagte sie zu Augusta, »daß Byron sich für verdammt hält und nicht an die Erlösung glaubt? Manchmal frage ich mich, ob er überhaupt ein Christ ist.« Sie sah Byrons Miene und fügte eilig hinzu: »Natürlich habe ich Verständnis für Zweifler. Ich habe selber gezweifelt, ein paarmal wenigstens.« Ihr Ehemann gähnte. »Aber ich glaube doch, Bell, das ist ja das Schreckliche.« Annabella dozierte: »Glaube ist nichts ohne die Hoffnung auf Erlösung. Nur durch die Auferstehung…« Sie geriet ins Stottern, als sie merkte, daß Byron sie mit seinen Augen förmlich vernichten wollte. Mit einem Knall stellte er das Glas, das er in der Hand hielt, auf den Tisch zurück.»… bekommt das Christentum seinen Sinn«, schloß sie lahm.
    Byron gebrauchte die betont sanfte, freundliche Stimme, die sie zu fürchten gelernt hatte, als er anfing, zu sprechen. »Die Basis deiner Religion ist Ungerechtigkeit. Der Sohn Gottes, der Reine, der Unbefleckte, der Unschuldige, wird für die Schuldigen geopfert. Das beweist zwar seinen Heroismus, nimmt aber von der Schuld der Menschen nicht mehr, als die Bereitschaft eines Schuljungen, sich für einen anderen züchtigen zu lassen. Du erniedrigst den Schöpfer zuallererst, indem du ihn zum Stammvater von Kindern machst; und zweitens verwandelst du ihn in einen Tyrannen über ein unbeflecktes und unbescholtenes Wesen, das in die Welt gesandt wurde, um den Tod für das Wohl einiger Millionen Schurken zu

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