Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Titel: Wahnsinn, der das Herz zerfrisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
hatten genügt, um Byron zu gewinnen. Für Claire stand sein Verhalten in völligem Einklang zu dem Bild, das sie sich von dem skandalumwitterten Lord gemacht hatte.
    Dabei war sie ihm eigentlich nur deswegen aufgefallen, weil sie von ihrer Bekanntschaft mit Shelley erzählte, dessen »Königin Mab« er gelesen und bewundert hatte. Sein Interesse wurde geweckt, und so hatte Claire mit Glück mehr als ein Dutzend Konkurrentinnen aus dem Feld geschlagen, die entweder von Fletcher oder von Byron selbst rundum abgewiesen worden waren.
    Die Geschichte endete in einer kurzen Zwei-Tage-Liaison, die Claire Gelegenheit gab, Byron ihre Stiefschwester Mary vorzustellen. Für Claire, die seit Marys Flucht mit Shelley das junge Paar nicht verlassen hatte, bedeutete dieser Augenblick höchsten Triumph. Sie hatte ebenfalls einen Dichter erobert, nicht nur einen, den Dichter, Gesprächsthema seit vier Jahren und Inbegriff aller Romantik. Die Ernüchterung folgte auf dem Fuße.
    Byron, der Claire niemals vorgespielt hatte, sie zu lieben, beantwortete keinen einzigen ihrer Briefe, die sie ihm quer durch Europa hinterherschickte. Als klar war, daß die Shelleys England wieder verlassen mußten, begleitete sie Claire ein weiteres Mal und überredete sie, in die Schweiz zu fahren, wohin Byron schließlich kommen mußte.
     
    Nachdem ihr mittlerweile aufgegangen war, daß Byron nicht gerade darauf brannte, sie wiederzusehen, und sie schon fast alle Hoffnung aufgab, kam er dann doch im selben Hotel wie die Shelleys an. Am nächsten Morgen fand er zu seinem Entsetzen ein Billet von Miss Clairmont auf seinem Frühstückstablett vor, das der Page lächelnd hereinbrachte. Er setzte alles daran, um einer Begegnung auszuweichen - diese fast aus seinem Gedächtnis entschwundene Claire erinnerte gefährlich an Caro Lamb. Schließlich überraschte sie ihn, als er gerade von einer Bootsfahrt zurückkam, vorsichtshalber in Begleitung von Mary und Shelley, um sich eine höfliche Behandlung zu sichern.
     
    Byron hatte in literarischen Kreisen, abgesehen von Thomas Moore, keine wirklichen Freunde. Die Bekanntschaft mit Sir Walter Scott konnte man besser als gegenseitiges Wohlwollen bezeichnen. Die anderen Dichter, von denen die meisten ihre romantische Rebellenpose wie Robert Southey zugunsten von royalistischer Lobhudelei allmählich ablegten, hielt er für eingebildete Heuchler: »Sie überlaß ich ihrem ew’gen Teetisch/
    Und Damencliquen, zierlich und ästhetisch.«
    Shelley dagegen war etwas ganz anderes, gewiß keine Bruderseele, doch die Bekanntschaft war mehr oder weniger die erste, die Byron reizte und intellektuell herausforderte. Er mietete die Villa Diodati, Shelley, Mary und Claire zogen in ein nahe gelegenes kleines Landhaus.
     
    »Glauben Sie an Geister, Shiloh?« fragte Byron zerstreut. Shelley lachte. »Wenn ich das bejahe, haben Sie mich bei einem Widerspruch in meinem Atheismus ertappt. Ich bin der Meinung, daß wir nach unserem Tod alle in ein unsterbliches seliges Nichts abgleiten, ein unendliches Glücksgefühl, wenn Sie so wollen.« Polidori fuhr auf. »Diese Ansicht kann ich nur als unhaltbar, unbegründbar und undenkbar verurteilen.«
    »Warum, Dr. Polidori?« fragte Mary Godwin höflich, Polidori errötete. »Das sagt mir mein Glaube.«
    Mary hob kaum merklich die Augenbrauen. »Ohne Sie kritisieren zu wollen, Doktor, denken Sie nicht auch, daß man einem Menschen mit einer ebenso festen Überzeugung, wie Sie sie haben, mit etwas detaillierteren Argumenten kommen müßte?«
    Byron beobachtete sie aufmerksam. Er war sich lange nicht sicher gewesen, ob er Mary Godwin nun mochte oder nicht. Sie war eine eigenständige Persönlichkeit, nicht nur Shelleys Anhängsel, und vertrat auch ganz eigene Ansichten.
    Als Tochter der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft und des Freidenkers William Godwin war Mary in einer Atmosphäre intellektueller Offenheit aufgewachsen. Ihr Scharfsinn und die ruhige, tolerante Art bildeten ihre Hauptanziehung. Äußerlich sah sie fast aus wie eine blassere Kopie von Shelley: helles Haar, ein feiner Knochenbau und eine fast magere Figur, bestimmt nicht das, was man sich unter einer Femme Fatale vorstellte. Sie begegnete Byron zunächst mit einiger Zurückhaltung, da sie sein Vorurteil gegen hochgebildete Frauen kannte.
    Aber Byron hatte bald festgestellt, daß Mary Godwin nicht Annabella Milbanke war. Im Unterschied zu Annabella besaß Mary Phantasie, Humor und Toleranz gegenüber Andersdenkenden und

Weitere Kostenlose Bücher