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Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Titel: Wahnsinn, der das Herz zerfrisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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machte es daher selbst Polidori schwer, auf sie böse zu sein.
    »Gerne würde ich meinen Glauben in Einzelheiten erläutern, Mrs. Shelley, aber da ich weiß, daß ich Mr. Shelley nicht umstimmen kann, halte ich das für überflüssig.«
    »Der Grund, warum ich gefragt habe«, warf Byron ein, »ist, daß mir Mönch Lewis ein Buch geschickt hat, eine Sammlung deutscher Spukgeschichten.« Shelley, der sich sehr für deutsche Literatur interessierte, hob den Kopf. »In Deutsch?« Byron verneinte. Er war durchaus sprachbegabt und hatte sich auf seiner Mittelmeerreise ziemlich schnell Italienisch, Neugriechisch, Spanisch und etwas Albanisch und Türkisch angeeignet. Aber Deutsch gehörte nicht zu seinem Kanon.
    Claire, die nicht wollte, daß der Abend erneut in eine Dreierdiskussion abglitt, bat darum, einige der Geschichten vorzulesen.
    Ihr Einfall fand allgemeine Zustimmung. Das Prasseln des Feuers und die schwache Beleuchtung bildeten die geeignete Atmosphäre. Mary schloß nach einiger Zeit die Augen und überließ sich dem Klang der Stimmen: Byrons dunkle, sonore, die helle, etwas heisere Shelleys, Polidoris abwechselnd tiefe und dann wieder sich in Aufregung überschlagende, der süße Sopran Claires. Bald saßen sie nicht mehr in der gewohnten Ordnung auf weit auseinanderstehenden Stühlen, sondern kauerten nebeneinander und genossen die seltsame Intimität, die sich gebildet hatte und niemanden mehr ausschloß.
    Keiner wollte, daß der Abend zu schnell zu Ende ginge, und so fingen sie an, aus dem Gedächtnis zu zitieren. Als Byron gerade die Hexenballade »Christabel« von Samuel Coleridge vortrug, schrie Shelley auf und rannte aus dem Raum. Byron und Polidori, die ihm nach der ersten Verblüffung nacheilten, fanden ihn heftig würgend über das Treppengeländer gebeugt. »Es war Mary«, flüsterte er zitternd. »Als Sie in Ihrem Gedicht bei der halbentkleideten Hekate angelangt waren, da sah ich plötzlich Marys Brüste, und sie waren nackt, und sie hatte Augen anstelle von Brustwarzen.«
    Shelleys Ausbruch hatte den Bann, von dem sie alle gefangen gewesen waren, gelöst, aber Byron, der nicht wollte, daß diese Stimmung für immer verflog, kam ein Einfall. »Laßt uns jeder ein Thema wählen - egal ob Werwölfe oder Zauberei - und eine Geschichte in Prosa schreiben.«
    »Das ist nicht gerecht«, protestierte Claire. »Sie und Shelley sind hoffnungslos im Vorteil.«
    Shelley hatte sich inzwischen erholt. Er lächelte schwach. »Im Gegenteil. Schon der Gedanke an Prosa läßt mir das Blut gefrieren.« Am Ende stimmten sie alle Byrons Vorschlag zu und stellten fest, daß ihnen von der Nacht des fünfzehnten Juni kaum noch Zeit zum Schlafen geblieben war.
     
    Meine liebste Augusta
    … Was für ein Narr war ich zu heiraten - und Du nicht sehr klug - mein Liebes - wir hätten so ledig und so glücklich leben können - als alte Jungfer und Junggeselle; ich werde nie jemanden wie Dich finden - noch Du (so eitel es erscheinen mag) jemanden wie mich. Wir sind dazu gemacht, unsere Leben zusammen zu verbringen, deshalb - sind wir - wenigstens - ich - durch einen Berg von Umständen von dem einzigen Menschen getrennt, der mich je hätte lieben können, oder zu dem ich mich rückhaltlos hätte hingezogen fühlen können.
    Wärst Du eine Nonne gewesen - und ich ein Mönch - daß wir vielleicht durch ein Eisengitter miteinander sprechen könnten, statt über das Meer hinweg - doch das macht nichts - meine Stimme und mein Herz sind immer…
     
    »Schreiben Sie an Ihrer Geistergeschichte?« Byron blickte auf, verärgert über die Störung. »Nein« antwortete er kurz. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, Miss Clairmont, wenn Sie mich in Ruhe lassen würden.« Ihr hübscher Mund verzog sich zu einem Schmollen. Nichts, aber auch gar nichts, entwickelte sich so, wie Claire Clairmont es sich ausgerechnet hatte. Sie legte Byron die Arme um den Hals und wisperte: »Einmal hast du mich Claire genannt, Albe, weißt du noch?«
    Albe, eine Verballhornung der Initialen L. B. war Marys Spitzname für ihn. Er machte sich los und sagte in einem nicht einmal unfreundlichen Ton zu ihr: »Miss Clairmont, oder Claire, wenn Ihnen das lieber ist, ich habe Sie nicht gebeten, hierherzukommen. Unsere nähere Bekanntschaft wurde, soviel ich weiß, auch von Ihrer Seite betrieben. Für mich ist sie beendet, aus Gründen, die nichts mit Ihnen zu tun haben. Ich finde Sie nach wie vor attraktiv, aber ich liebe Sie nicht. Schlagen Sie sich alle Hoffnungen aus

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