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Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Titel: Wahnsinn, der das Herz zerfrisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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hatten, wünschten mindestens zwei den Rest der Gesellschaft an das andere Ende der Welt.
    Der einundzwanzigjährige Dr. John William Polidori war einer von ihnen, Byron hatte ihn auf Drängen von Augusta und Hobhouse, er müsse einen Mediziner bei sich haben, der auf sein Wohlergehen achte, mitgenommen. Inzwischen hielt Byron diese Anstellung für eine weitere seiner zahllosen Fehlentscheidungen.
    Polidori war groß, trug sein pechschwarzes Haar etwas überlang und ahmte mit jeder seiner Gesten eifrigst sein Idealbild, den Byronschen Helden nach. Er hatte den Auftrag nicht als Arzt, sondern als Mitglied einer trotz oder wegen des Skandals immer noch großen Lesergemeinde angenommen. Die Aussicht, mit dem berühmten Lord Byron reisen zu können, ließ ihn jede Bedingung akzeptieren.
    Doch nach kaum einem Monat, den er mit Byron - dem nach allem anderen als nach Gesellschaft zumute war - durch Flandern und den Rhein entlang reiste, betrachtete er seinen dichtenden Patienten als sein Privateigentum und begann sich dementsprechend zu verhalten.
    Seit ihrer Ankunft am Genfer See reagierte Byron darauf, indem er die Anwesenheit des Arztes völlig ignorierte. Dies erwies sich als besonders leicht, da drei weitere Exilanten sich zu ihnen gesellt hatten, die ebenfalls England hatten den Rücken kehren müssen.
    Percy Bysshe Shelley, zwei Jahre älter als Polidori, war ebenfalls Dichter. Seine Bekanntheit in England gründete sich allerdings weniger auf sein - noch verhältnismäßig spärliches - Werk als auf die Ansichten, die er vertrat: Gottlosigkeit, Demokratie und freie Liebe. Wegen einer kleinen Broschüre, »Die Notwendigkeit des Atheismus«, hatte man ihn von Oxford, wo er studierte, relegiert. Seine erste größere Dichtung »Königin Mab« wurde vor allem wegen Anmerkungen wie »Frau und Mann sollten so lange miteinander vereint sein, wie sie einander lieben«, »Liebe ist frei«, »Keine Einrichtung könnte dem menschlichen Glück mehr systematisch feindlich gegenüberstehen als die Ehe« gelesen und zerrissen.
    Shelley glaubte nur an die Natur. Er sah das Gute als identisch mit dem Schönen an, forderte die Aufhebung des Privateigentums und stellte das Weltall unter das universale Gesetz der Liebe. Doch nicht genug damit, Shelley setzte seine Theorien auch in die Praxis um, verließ seine Frau und floh mit seiner siebzehnjährigen Geliebten und ihrer Stiefschwester auf den Kontinent. Das war vor zwei Jahren gewesen. Shelley und Mary Godwin hatten ein gemeinsames Kind und waren inzwischen nur einmal kurz wieder in England gewesen.
     
    Polidori als strenger Katholik verabscheute Shelley allein seiner Ansichten wegen. Byron dagegen schien offensichtlich von ihm fasziniert zu sein. Schon rein äußerlich, dachte Polidori wütend, konnte man sich keine größeren Antipoden vorstellen. Während Byron viele, die ihm begegneten, an einen dunklen gefallenen Engel erinnerte, glich der blonde langhaarige Shelley einer hellen Lichtgestalt. Er war mager und hatte nichts von Byrons athletischem Äußeren.
    Im Unterschied zu Byrons sarkastischer Art, die seine Umgebung oft zunächst einschüchterte, benahm sich der nur mittelgroße Shelley gleichbleibend liebenswürdig. Allerdings fehlte ihm völlig jene verwirrende Mischung aus Charme und Faszination, die Byron an den Tag legen konnte, wenn er nur wollte.
    Shelley überzeugte nicht durch seine Ausstrahlung, sondern durch seinen messerscharfen Verstand. Wahrhaftig, hätte man sich die Mühe gemacht und nach Byrons genauem Gegenteil gesucht, Shelley wäre keine schlechte Wahl gewesen.
    Und doch sympathisierten diese beiden, die sich selbst aus England verbannt hatten, fast vom ersten Augenblick an miteinander. Polidori kam sich bei den nun regelmäßig erfolgenden Diskussionsabenden manchmal wie ein völliger Ignorant vor, und das haßte er. Hatte ihm der Verleger Murray nicht fünfhundert Pfund dafür angeboten, daß er als einziger Begleiter Byrons im Exil ein Tagebuch führte?
    Die Person, die Polidori nächst Shelley am meisten mißfiel, war Claire Clairmont, die die beiden Dichter zusammengebracht hatte. Ihren richtigen und sehr viel prosaischeren Vornamen Mary Jane hatte Claire schon mit fünfzehn abgelegt.
    Claire, eine etwas üppige reizvolle Brünette, hatte sich Byron buchstäblich am Vorabend seiner Abreise aus England an den Hals geworfen. Ihre Methode war nicht eben originell. Einige anonyme Briefe, und, als das nichts half, eine zufällig herbeigeführte Begegnung

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