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Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Titel: Wahnsinn, der das Herz zerfrisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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dem Kopf.«
    Claire hörte ihm nicht wirklich zu. Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Sie sind gemein zu mir!« Hinter ihrem kindischen Gehabe verbarg sich eine tiefergehende Angst. Sie war schwanger, und sie wußte, daß mit Bekanntwerden dieser Tatsache jede Chance, die Affäre wiederaufzunehmen, verdorben war. Ihre Hände zitterten, und Byron hatte plötzlich Mitleid mit ihr. »Haben Sie denn Ihre Geistergeschichte geschrieben?« fragte er. Claire schüttelte den Kopf.
    Keiner hatte bis jetzt etwas geschrieben. Polidori brütete und war überzeugt, Byron hätte das Ganze nur vorgeschlagen, um ihm Minderwertigkeitsgefühle einzuflößen. Shelley gab schon bald den Kampf mit der Prosa auf. Und Mary zerbrach sich bis jetzt ebenfalls vergeblich den Kopf. Sie wollte etwas wirklich Gutes, Schauriges schaffen, etwas, das ihr die Achtung ihrer Freunde einbrachte. Aber es kam nichts.
    Byron war schließlich der erste, der eine Geschichte entworfen hatte. Es ging um zwei Freunde, die in den Orient reisten. Einer wurde tödlich verwundet und ließ den anderen an seinem Sterbebett schwören, niemandem von seinem vorzeitigen Dahinscheiden zu erzählen. Doch als der überlebende Freund allein nach England zurückkehrte, fand er den verstorbenen Reisegefährten höchst lebendig wieder, der um die Schwester des durch den Schwur Gebundenen warb. Byron war nicht recht zufrieden mit diesem Fragment und überließ Polidori seinen Entwurf.
    Für die nächste Zeit war eine mehrtägige Segeltour von Byron und Shelley über den Genfer See, auf den Spuren des Schweizer Dichterphilosophen Rousseau, geplant. In der Nacht vor ihrer Abreise hatte Mary einen Traum, der ihr Spukdilemma lösen sollte. Sie sah einen großen Leichnam in einer seltsamen Gruft liegen. Neben dem Körper kniete eine verwaschene kleine Figur und stach mit verschiedenen Instrumenten in das längst schon erkaltete Fleisch. Und dann öffnete der Leichnam zu ihrem Entsetzen die Augen, begann zu atmen, starrte sie an… Mary erwachte schreiend. Als sie sich wieder beruhigt hatte, wußte sie mit einem Mal, daß ihr Problem einer Stoffsuche nicht mehr existierte. Sie hatte es. Ihre Geistergeschichte. Was sie so sehr erschreckte, mußte auch die anderen erschrecken. Nachdem sie Byron und Shelley am Pier verabschiedet hatte, begann sie, die Geschichte von einem Leichnam zu schreiben, der auf künstliche Weise wieder zum Leben erweckt wird.
     
    Byrons und Shelleys Rousseau-Expedition verlief zunächst äußerst friedlich. Sie fanden die Natur so zauberhaft, wie Rousseau sie beschrieben hatte, und wandelten andächtig durch Meillerie, das verwunschene Paradies des Schweizers. Abends erhitzten sie sich in Debatten über die »Tümpelfanatiker« Wordsworth und Coleridge, die Shelley so innig verehrte.
    Doch der Ausflug drohte in einem Fiasko zu enden. Ein jäher Wind kam auf, so scharf und heftig, daß der Genfer See mit einem Mal große Ähnlichkeit mit einem Meer hatte. Byron, der wußte, daß Shelley nicht schwimmen konnte, befreite sich von seinem Mantel. Im Sturm rief er Shelley zu, er solle sich an ihm festhalten, wenn sie beide über Bord gingen. »Schlagen Sie nicht um sich, ich werde Sie retten!«
    »Ich will nicht gerettet werden!« schrie Shelley zurück. »Kümmern Sie sich nicht um mich, retten Sie vor allem sich selber!« Wie durch ein Wunder gelangten sie wohlbehalten in den nächsten Hafen.
    »Shiloh«, bemerkte Byron erschöpft und musterte den völlig durchnäßten Shelley, »Sie sind der mutigste Mann, den ich kenne. Aber warum, zum Teufel, wollten Sie meine Hilfe nicht annehmen?«
    Shelley schüttelte heftig den Kopf: »Sie haben mein Leben nicht in Ihrer Hand, Albe. Ich weiß, daß ich durch das Wasser sterben werde. Und ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich Ihnen den Tod brächte.«
    »Ich dachte«, erwiderte Byron, »ich wäre der Verrückte hier. Aber Sie sind noch schlimmer, Shiloh.« Die beiden Männer blickten sich an und brachen in befreiendes Gelächter aus.
     
    Mary schrieb inzwischen wie besessen an ihrer Geschichte, die sich allmählich zu einem Roman ausweitete. Im Mittelpunkt der Erzählung stand ein Arzt namens Frankenstein. Polidori war dabei, aus Byrons Fragment eine Spukgeschichte um einen Vampir zu entwickeln. Byron und Shelley sprühten nach ihrer Rückkehr vor neuen Ideen. Bald war Claire die einzige, die nichts zu Papier brachte. Sie versank in Langeweile und Eifersucht.
    Byron wartete schon seit einigen Wochen auf den nächsten Brief

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