Wahr
liegen. Sie sieht ihr Spiegelbild in der Glastür, als sie das Krankenhaus betritt. Läuft den Gang entlang, stößt mit einer Schwester zusammen. Fragt nach Ella und wird zu ihrem Zimmer geführt.
Als sie die Tür öffnet, denkt sie kurz, dass da eine fremde Familie vor ihr sitzt. Es muss das falsche Zimmer sein, denn das Bild vor ihr ist bereits vollständig, und sie gehört nicht dazu. Die Frau sitzt auf dem Bett ihrer Tochter. Der Vater des Kindes – der Ehemann der Frau, denkt Elsa – legt den Arm auf die Schulter der Frau. Die Frau lehnt sich nach hinten und küsst ihren Mann. Er umarmt sie. Der Kuss ist nicht besonders lang, aber es ist unbestreitbar einer, den Menschen einander geben, die ganz und gar zueinander gehören. Das alles geht Elsa blitzschnell durch den Kopf, eine halbe Sekunde nur.
Dann schaut das Mädchen zur Tür und ruft: »Mama!«
Elsa begreift, dass sie nicht die falsche Tür geöffnet hat. Sie versteht, was sie längst wusste.
Elsa überschreitet die Türschwelle, ohne zu fragen, drängt sich an mir vorbei, geht ohne Schuhe und Mantel auszuziehen in die Küche und setzt sich an den Tisch.
»Was ist mit dem Mädchen?«, frage ich sofort, »was ist mit Ella?«
»Es geht ihr gut«, antwortet Elsa. »Solange du dich von ihr fernhältst.«
Meine Lungen entlassen die angestaute Luft. Dem Mädchen geht es gut. Aber Elsas Blick bohrt sich in mich und sagt, dass es keinen Grund gibt, erleichtert zu sein.
»Und jetzt klären wir diese Sache«, bestimmt sie.
»Welche Sache?«, frage ich und höre, wie dumm das klingt.
»Du weißt genau, wovon ich rede. Ich weiß alles. Alles, was hier jahrelang gelaufen ist.«
Ich frage naiv, ob Elsa Kaffee möchte; sie antwortet, sie sei nicht zum Plaudern hergekommen, den Kaffee könne ich mir sparen. Nur um nicht so hilflos dazustehen, gehe ich an den Schrank und tue so, als würde ich nach einer Kleinigkeit zu essen suchen. Ich weiß nicht, wie ich meine Nacktheit vor Elsa verbergen soll. Sie sieht mich an, in ihr ist kein einziger Riss. Sie ist schön, unbezwingbar. Ich habe immer gedacht, da wären Risse. Ich habe gedacht, wenn diese Begegnung eintritt, die ich so gefürchtet und mir jahrelang vorgestellt habe, würde ich zumindest einen kleinen Riss entdecken, an den ich mich halten könnte, der mich trösten würde. Aber es gibt keinen Riss, nur diesen gnadenlosen, furchtlosen Blick.
Das Zittern ihrer Finger sehe ich nicht. Die verunsicherten Gedanken, die sich hinter ihrer Unbeirrbarkeit verbergen, sehe ich nicht. In Wirklichkeit geht es ihr schlecht, sie muss sich beinahe übergeben. Den ganzen Vormittag hat sie im Bett verbracht. Die Irritation ist wie eine Seuche. Sie staunt über ihr Befinden: So fühlt es sich an, wenn sie ernsthaft krank wird, was äußerst selten ist. Irgendetwas muss geschehen, hat sie morgens gedacht, als die Angst in ihrem Magen wogte. Sie hat ihre Verunsicherung als Tatkraft maskiert und ist durch die ganze Stadt marschiert, hat ihre gesamte Wut aktiviert. Und jetzt ist sie hier, selbstsicher, undurchdringlich.
Sie mustert meine nackten Beine, das Nachthemd, durch dessen verschlissenen Stoff meine Brust schimmert. Was für dünne Mädchenstelzen sie hat und was für billige kleine Hügelchen, denkt sie.
Sie redet als Erste, kommt ohne Umschweife zur Sache: »Bilde dir bloß nicht ein, dass diese Sache, die du mit meinem Mann und meiner Tochter treibst, etwas mit Liebe zu tun hat.«
Sie schnaubt. Ein schwacher Ausdruck der Verachtung, nur dieses Ausatmen. Es genügt, mich zu entwerten.
Sie sieht hart aus, so hart habe ich sie noch nie erlebt. Da ist keine spaßhafte Seite mehr. Und von ihrer Angst weiß ich nichts. Drei Jahre ist es her, dass ich ihr zum ersten Mal begegnet bin, seitdem ist sie nur noch selbstsicherer geworden. Sie ist ein Baum, der seine Wurzeln tief in den Grund gegraben hat.
»Du weißt überhaupt nichts von uns«, sagt sie. »Du weißt nichts von uns, und du gehörst nicht zu unserer Familie.«
Ich bringe keinen Ton hervor.
»Hast du in diesen Jahren jemals darüber nachgedacht, was du dem Mädchen antust?«, fragt sie, und zum ersten Mal liegt ein Zittern in ihrer Stimme. »Hast du das?«
»Ja.«
»Was soll ich ihr sagen, wenn sie nach dir fragt? Sag mir, was ich tun soll, wenn sie nicht einschlafen kann, weil du nicht da bist, um sie zuzudecken?«
»Ich weiß es nicht.«
»Das ist keine Antwort.«
Ich gebe nach, sage, was ich für richtig halte. »Du sagst ihr, dass ich nicht mehr
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