Wainwood House - Rachels Geheimnis
eine lebhafte Diskussion. Die Abwesenheit von Damen schien eine hinreichende Entschuldigung für die Männer zu sein, sich in Hemdsärmeln zu versammeln, zu rauchen und sich in den Details von Truppenunterbringungen und längst vergangenen Abenteuern zu verlieren.
Colonel Feltham selbst tat sich meistens durch Schweigsamkeit hervor. Seine Anwesenheit geriet dabei leicht in Vergessenheit, doch Julian wurde nie ganz das Gefühl los, dass sein Gastgeber ihn quer durch den Raum mit Blicken maß und seine eigenen Schlüsse über ihn zog. Er ermöglichte Julian im Frühling Besuche bei den verschiedenen Regimentern und führte ihn eines Morgens bis vor die Tore der Stadt, damit er Zeuge eines Manövers im offenen Gelände werden konnte. Um dieses lehrreiche Programm abzurunden, verstand es Feltham offenbar als seine Pflicht, Julian als Zuschauer zu Boxkämpfen und in seine bevorzugte Fechthalle mitzunehmen. Außerdem trieb er einen Hinterhof voller Gerümpel auf, in dem sein junger Gast ungestört schießen üben konnte.
Nichts davon hatte Julian in dem Wunsch bestärkt, in einem Regiment seiner Majestät des Königs zu dienen. Die Armee selbst schien gegenwärtig mehr mit der Bürokratie und der schieren Größe des britischen Weltreichs zu kämpfen zu haben als mit den Gefahren einer offenen Feldschlacht. Sogar die Gesellschaft der Offiziere unterschied sich nicht sehr von einer Gruppe kraftstrotzender Schuljungen, die einem eigenen Code aus Gesten, Gehabe und Schlagwörtern unterworfen war, bis ins Mark von einer strikten Rangordnung und uralten Ehrbegriffen geprägt.
Auch deshalb hatte Julian in London Maurice’ Gesellschaft gesucht. Was immer Weihnachten zwischen ihnen auf der Terrasse vorgefallen war, wurde mit keinem Wort erwähnt. Doch Maurice war im Besitz eines fabelhaften Motorrades und gemeinsam erkundeten sie auf ausgedehnten Streifzügen die Stadt. Sie zogen durch das Theaterviertel und die Parks, flohen bei Regen in das Britische Museum oder in weit weniger respektable Etablissements. Sie waren in fast allem unterschiedlicher Meinung, doch gerade das machte ihre Freundschaft aus. Sie konnten über alles miteinander reden, außer über das eine Thema, das noch immer unausgesprochen zwischen ihnen stand. Im April hatte Julian seinem alten Schulfreund schließlich eine Abschrift der Liste gegeben, die Jane in Rachels Buch gefunden hatte, in der Hoffnung, der ehrgeizige junge Mann würde einen Namen wiedererkennen oder ein Muster aus dem Geschriebenen herauslesen. Maurice hatte die Liste aufmerksam studiert, sehr lange geschwiegen und ihn dann um ein paar Tage Zeit gebeten. Erst drei Wochen später ergab sich endlich dieser Abend, um ungestört mit Julian sprechen zu können.
Die Liste lag zwischen ihnen auf dem Tisch, umkränzt von einem Stück Pastete, das Julian in einem Pub besorgt hatte, und einer Flasche Wein von Maurice. Durch die Fenster fiel das Licht der späten Abenddämmerung und verlieh der staubig samtigen Atmosphäre des altmodischen Salons einen warmen Anstrich. Aus dem Flur roch es nach Bohnerwachs, aus den Möbeln nach Zigarrenrauch, und wenn Julian sich weit genug vorbeugte, dann konnte er einen Hauch von Bergamotte auf Maurice’ perfekt rasierten Wangen ausmachen.
Statt sich derart ablenken zu lassen, zerschnitt er lieber den knusprigen Teigmantel der Pastete und zerteilte sie in mehrere gleich große Stücke. Ihr Zerbersten wurde nur durch das ferne Hufgeklapper auf dem Straßenpflaster und das Knattern eines Automotors untermalt. Über dem Tisch hallte Maurice’ Eröffnung nach, wie die ersten Sätze einer Ouvertüre, in dem Augenblick, bevor sich der Vorhang über einer Bühne hob. Endlich legte Julian das Messer zur Seite. Er wischte sich die Krümel von den Fingern und sah auf. »Was sind es also für ungeheuerliche Geheimnisse, die sich in dieser Liste verbergen?«
Doch Maurice war nicht bereit, sich allzu schnell in die Karten schauen zu lassen. Er lehnte sich im Sessel zurück, entschlossen, sich noch eine geraume Weile auf Julians Kosten bestens zu unterhalten und seine Neugier weiter anzustacheln.
»Auf den ersten Blick schien mir die Auswahl der Namen auf der Liste recht willkürlich. Ich erkannte nur wenige Leute wieder. Etwa einen britischen Politiker, der im Laufe seiner Karriere als Soldat in Ägypten diente, und einen französischen Geschäftsmann, der durch den Bau des Suezkanals reich geworden war. Aber du hattest mir die frühen Achtziger des letzten Jahrhunderts
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