Wainwood House - Rachels Geheimnis
nicht mehr länger unterdrücken. »Frösche, oder vielleicht doch lieber Bartwichse?«, erkundigte sie sich.
»Sie haben davon gehört?« Der junge Mann wirkte weniger beschämt als vielmehr begeistert. Fast bereute Penny, ihrer Neugier nachgegeben zu haben. Allerdings nicht genug, um die Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen. »Ich hörte darüber spekulieren«, räumte sie ein und gab sich alle Mühe, unbeeindruckt zu klingen. »Aber die ganze Angelegenheit wird besser gehütet als ein Staatsgeheimnis.«
»Es war meiner Familie wohl auch ziemlich unangenehm«, gab Nyles zu. Er musterte Penelope mit einem prüfenden Blick, bevor er zu einem Entschluss zu kommen schien. »Ich werde Sie einweihen, aber Sie müssen mir versprechen, nichts zu verraten«, erklärte er. In seinen Augen stand ein Ausdruck, der es Penny unmöglich machte, den Blick abzuwenden. Oder die Form zu wahren. Sie hob ihre Hand wie zum Schwur und konnte nicht aufhören zu lächeln. Lord Nyles beugte sich verschwörerisch vor, bis ihre Gesichter dicht voreinander schwebten. »Meine Eltern haben im Frühjahr Besuch von Verwandten bekommen. Einem Ehepaar deutscher Diplomaten. Als sie auf unserem Landsitz herumgeführt wurden, musste mein Vater feststellen, dass alle Büsten und Porträts falsche Bärte trugen. Genauer gesagt Schnurrbärte, die mit Bartwichse so kunstvoll in Form gebracht worden waren, dass sie aufs Haar genau dem gebogenen Schnurrbart des deutschen Kaisers glichen.«
Während Penny mit der Hand ihr Lachen erstickte, damit sie nicht in den Büschen entdeckt wurden, fügte Nyles seelenruhig hinzu: »Sogar die weiblichen Porträts trugen welche. Und auf einem taktisch wohlpositionierten Samtkissen lag eine Dose des verwendeten Produkts als Geschenk für seine kaiserliche Hoheit bereit. Ich möchte betonen, dass mir nichts nachgewiesen werden konnte!«
Glücklicherweise schien sich niemand in der Nähe zu befinden, der sie hören konnte, denn jetzt entkam Penny ein prustendes »Oh Nyles, wie konnten Sie nur?«.
»Es war im Grunde ganz einfach, nachdem ich einmal erkannt hatte, dass das deutsche Ehepaar ihre liebreizende Tochter im heiratsfähigen Alter mitgebracht hatte«, behauptete er ernsthaft und setzte Penelopes guter Laune damit ein jähes Ende. Sie fasste sich wieder, strich ihre Röcke glatt und konnte sich nicht erklären, wohin ihre Ausgelassenheit so plötzlich verschwunden war.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte der junge Lord und betrachtete sie forschend von der Seite. »War das Debüt am Hof nicht der schönste Tag Ihres Lebens? Und war Ihre Majestäten genauso eindrucksvoll, wie Sie es sich ausgemalt hatten?« Er klang nicht gehässig, aber neugierig und ehrlich interessiert.
»Das hätte so sein sollen, nicht wahr?«, fragte Penny nachdenklich zurück, während sie die Erinnerung vor ihrem inneren Auge auferstehen ließ. Sie hatte ausgesehen wie eine Braut und selbst Claire hatte sich zu einer freundlichen Bemerkung über ihr Kleid herabgelassen. Damit war allerdings auch schon das Beste über die ganze Prozedur gesagt. Sie hatten stundenlang in einer Schlange wartender Kutschen und Automobile vor dem Palast ausgeharrt, gemeinsam mit allen anderen Debütantinnen. Die Kolonne der Wagen hatte sich vom Palast aus die ganze Mall hinuntergezogen, eingesäumt von den Bäumen der Allee und neugierig begafft von Schaulustigen.
Als sie endlich im Palast angelangt waren, hatten Hunderte von herausgeputzten Mädchen in den Korridoren und Gemächern vor dem Empfangssaal warten müssen. Die elektrische Beleuchtung des Buckingham-Palastes hatte den Schmuck und die Gläser funkeln lassen. Überall wurden verstohlen die Hälse ge reckt, denn keines der jungen Mädchen war je zuvor im Palast gewesen. Die eigentliche Zeremonie war knapp bemessen gewesen. Penelope war dem Monarchen und seiner Familie vorgestellt worden und hatte vor jedem Mitglied geknickst. Sie hatte die königlichen Hände geküsst und sich dann rückwärtsgehend entfernen dürfen. Claire, die vor ihr an der Reihe gewesen war, hatte zumindest noch ein knappes Kompliment von Königin Alexandra bekommen, was für gemeinhin bedeu tete, dass sie sich zu den hübschesten Mädchen der dies jährigen Saison zählen durfte. Als Penelope endlich wieder an ihrem Platz gestanden hatte, war sie noch immer dasselbe Mädchen gewesen, das am Nachmittag voller Aufregung von zu Hause aufgebrochen war, nur dass sie fortan als erwachsene Frau galt.
Weit über den Dächern
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