Wainwood House - Rachels Geheimnis
aber seine Lordschaft ist nicht mehr im Hause. Er ist zusammen mit ihrer Ladyschaft aufgebrochen, um sich auf den übrigen Bällen kurz sehen zu lassen, und wird nicht vor drei Uhr zurückerwartet.« In seinem aufmerksamen Blick stand die stumme Bitte um weitere Anweisungen.
»Vielen Dank, dass Sie mich informiert haben«, riss sie die Sache kurz entschlossen an sich. »Ich werde mich um ihn kümmern.«
Es widerstrebte ihr, sich bei Lord Nyles zu entschuldigen, um in die Eingangshalle hinabzugehen, doch er machte glücklicherweise keine Anstalten, ihr von der Seite zu weichen. Sie fanden die Marmortreppe nahezu verlassen vor. Nur auf einem der Treppenabsätze waren zwei junge Frauen eifrig darum bemüht, einen gerissenen Saum festzustecken. Sie sahen erschrocken auf, als ihr Missgeschick bemerkt wurde, doch Lord Nyles grüßte nur höflich im Vorbeigehen und Penny eilte bereits Julian entgegen.
Obwohl vor dem Ball Anstrengungen unternommen worden waren, ihn als Tänzer für die jungen Damen zu verpflichten, hatte Julian sich bei der Gastgeberin entschuldigen lassen. Auch jetzt trug er keine angemessene Abendgarderobe und wurde zudem von Samuel Kingston begleitet. Beide guckten ungewöhnlich ernst.
»Vater ist nicht aufzutreiben«, erklärte Penelope, als sie bei ihnen ankam. »Was ist passiert?«
Die jungen Männer tauschten einen resignierenden Blick. Der Diener zuckte sogar kaum merklich mit den Schultern, geradeso als würden sie eine stumme Absprache halten. »Jane wurde heute Abend mitten in London entführt.« Julian klang aufgekratzt und müde zugleich. »Um den Colonel zu erpressen.«
Penelope öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch zum zweiten Mal an diesem Abend bekam sie keinen vernünftigen Gedanken zu fassen. Lord Nyles trat neben sie und Penny spürte seine Hand an ihrem Arm.
»Wir haben die ganze Stadt nach Feltham abgesucht, doch es ist, als hätte er sich in Luft aufgelöst«, fuhr Julian fort. »Also wollten wir unser Glück bei deinem Vater versuchen.« Die Aussicht schien ihm keinen großen Trost zu spenden und Penny konnte ihm das nur zu gut nachempfinden. »Wie konnte das geschehen?«, fragte sie fassungslos. Die vier jungen Leute drückten sich hinter einer hübschen Marmorbüste im Schatten der hohen Säulen herum, während oben im Saal die Musik wieder einsetzte.
Julian nickte dem jungen Diener zu, und Samuel wiederholte mit knappen Worten, was sich seit dem frühen Abend zugetragen hatte. Er beschrieb die Entführung und gab die Botschaft für Colonel Feltham wieder. Am Ende dachte keiner von ihnen mehr an den Ball.
»Was ist ein Totenbuch?«, sprach Nyles die Frage aus, die allen durch den Kopf zu gehen schien.
»Ein Wegweiser ins Totenreich«, erklärte Penelope mit der allergrößten Selbstverständlichkeit. Sie hatte viele Nächte im Glockenturm mit der Lektüre über das alte Ägypten verbracht und es gab eine ganze Reihe Abhandlungen zu diesem Thema. »Es handelt sich um eine Sammlung von Zaubersprüchen und Anweisungen, die dem Verstorbenen helfen sollen, im Jenseits ein gutes Leben zu führen. Sie wurden an die Wände der Grabkammern, auf die Bandagen der Mumien und später auch auf Papyrus gemalt.«
Nach dieser Erklärung sah sie in zutiefst ungläubige Gesichter, allein Julian schien eher belustigt als erstaunt. »Als wir zehn waren, hat sie versucht, ihre Puppen zu mumifizieren«, behauptete er, ohne eine Miene zu verziehen. »Seitdem überrascht mich gar nichts mehr.« Doch dann fügte er sehr viel ernster hinzu: »Es ist das Totenbuch, das all diese Männer gesucht haben. Der Horus auf dem Dachboden, der englische Gentleman, der Rachels Kindermädchen besucht hat, und auch die Männer, die Feltham nach England gefolgt sind.«
Als wäre sein Verdacht der Startschuss gewesen, sprudelten plötzlich ihre Mutmaßungen durcheinander, während Samuel und Lord Nyles mit zunehmender Verwirrung lauschten.
»Bei dem englische Gentleman muss es sich um Mr White gehandelt haben«, erriet Penny.
»Dieser Gedanke kam mir auch schon«, räumte Julian ein. »Aber warum das Totenbuch? Müssten sie nicht eigentlich hinter der Liste her sein?«
Das Mädchen wog nachdenklich den Kopf. »Vielleicht wissen sie gar nicht von Rachels Aufzeichnung? Immerhin war es nur eine Abschrift und nicht das Original.«
»Wäre es nicht viel wichtiger zu fragen, wo sich das Totenbuch befindet?«, unterbrach Lord Nyles ihre Schlussfolgerungen. Er ließ seine Taschenuhr aufschnappen und fand
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