Wainwood House - Rachels Geheimnis
die ihnen geblieben war. »Ich denke, ich weiß, wo es ist«, sagte sie ernst. »Wir sollten sofort aufbrechen.«
12. KAPITEL Totenbuch
D ie Entführung ging mit einer so ausgesuchten Höflichkeit über die Bühne, dass Jane einen irrwitzigen Moment lang glaubte, sogleich eine Erfrischung gereicht zu bekommen und eine Platte mit Sandwiches. Die Kutsche hatte am Rande des Parks mit offenem Schlag und heruntergelassenem Trittbrett auf sie gewartet. Ein junger Diener in orientalischen Gewändern stand bereit, um ihr hineinzuhelfen, während der Falke sich mit einem spitzen Schrei auf seiner Schulter niederließ. Mr White war wie für ein festliches Dinner gekleidet, als er sich zu ihr hinausbeugte. Mit einer Hand tippte er sich grüßend an seinen Zylinder, in der anderen hielt er einen Revolver, dessen polierter Lauf in der Abendsonne glänzte. »Miss Swain, wenn Sie mir bitte die Ehre erweisen würden, mich ein Stück zu begleiten?«, erkundigte er sich so freundlich, als würde es sich nur um eine vergnügliche Kutschfahrt handeln.
Doch hinter Jane und Samuel tauchten ihre Verfolger im Park auf und die Mündung des Revolvers blieb unmissverständlich auf ihre Brust gerichtet. Als wäre der alte ägyptische Albtraum von einem neuen abgelöst worden, sah Jane sich Hilfe suchend nach Samuel um. Die beiden Männer, die sie durch die Straßen bis in den Park verfolgt hatten, flankierten ihn jetzt von beiden Seiten. Sie warteten höflich darauf, ob er sich dazu entschließen würde, sie mit bloßen Fäusten anzugreifen. Jane las in seinem beschwörenden Blick, dass Samuel nur auf ein Zeichen von ihr wartete, um einen verzweifelten Fluchtversuch zu wagen. Doch es gab nichts, was sie beiden hätten tun können. Sie waren nicht bewaffnet und der gepflegte, grünsprießende Park lag in der Dämmerung verlassen da. Unendlich langsam wandte sich Jane zu Mr White herum und stieg in die wartende Kutsche.
Als der orientalische Diener den Schlag hinter ihnen schloss und die Pferde anzogen, schrumpfte Janes Welt auf die Kabine des altmodischen Zweispänners zusammen. Draußen strebten die Londoner auf den abendlichen Straßen unbekannten Zielen entgegen, mit zerlesenen Zeitungen unter den Armen und zusammengeklappten Regenschirmen. Sie kauften geräucherten Fisch für das Abendbrot ein oder standen rauchend beisammen. Einige schlurften in ihrer Arbeitskleidung mit müden Schritten nach Hause, andere hatten ihre beste Garderobe angelegt und eilten dem hereinbrechenden Abend erwartungsvoll entgegen. Die ersten Straßenlaternen flackerten entlang der Häuser und beschienen die Männer und Frauen auf ihrem Weg durch die Stadt. Sie bewegten sich gemeinsam mit anderen Kutschen, Droschken, Omnibussen, Automobilen und einzelnen Reitern durch die Straßen. Doch sie alle waren für Jane so unerreichbar, als stammten sie aus einer anderen Zeit. Sie saß Mr White in dem schwankenden Wagen gegenüber. Ihr schwarzes Kleid mit der weißen Schürze bildete den perfekten Gegensatz zu seiner Abendgarderobe. Neben ihr hatte sich der dunkelhäutige Diener in stummem Gleichmut niedergelassen. Er hielt den Falken und strich ihm beruhigend über das dichte Gefieder. In der Kutsche schienen der aufgeregt zuckende Kopf des Vogels und seine stechenden Augen das einzig Lebendige zu sein. Behutsam streifte ihm der Diener eine lederne Kappe über. Sogleich wurde das Tier ruhiger. Als Jane den jungen Mann von der Seite musterte, erkannte sie, dass er ungewöhnlich lange Wimpern hatte und ein Profil, das ihr schon einmal begegnet war. Auf Wainwood hatte er während des Weihnachtsballs die schwarze Livree eines gewöhnlichen Dieners getragen.
»Sie haben den Horus während der Jagd auf Wainwood eingeschleust«, stellte sie an Mr White gewandt fest. Zu Janes Erleichterung klang ihre Stimme ruhig und sicher, obwohl sie sich wie ein kleines Tier fühlte, das unverhofft in der Schlinge eines Jägers hängen geblieben war. Samuel hatte ihr erklärt, dass einige der Burschen aus dem Dorf auf diese Weise heimlich Hasen fingen. War das Tier einmal in die Schlinge geraten, konnte es sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien.
»Nicht doch«, tadelte Mr White freundlich. »Ich wurde lediglich von einem zuverlässigen jungen Kammerdiener begleitet, der noch andere Verpflichtungen hatte, als sich um meine Garderobe zu kümmern.« Er trug einen Frack und makellose Glacéhandschuhe, zu denen ein Gehstock weit besser gepasst hätte als ein Revolver. Dennoch hielt er die
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