Wainwood House - Rachels Geheimnis
bestätigt, was er bereits befürchtet hatte. »Es ist fast Mitternacht. Wenn die Übergabe in Wainwood stattfinden soll, läuft uns die Zeit davon.«
»Du denkst, dass wir zu der Übergabe gehen sollten?«, stellte Penelope verblüfft, aber keineswegs entsetzt fest. Im Grunde erschien ihr diese Überlegung nur logisch, nun, da sie einmal im Raum stand und weder ihr Vater noch Colonel Feltham aufzutreiben war.
»Irgendjemand sollte zu dem Grab gehen«, gab Lord Nyles zu bedenken. »Vorzugsweise mit dem Totenbuch. Und der Colonel scheint nicht zur Stelle zu sein.«
Falls Julian die neue Vertrautheit zwischen Penelope und dem jungen Lord zu denken gab, so ließ er sich nichts anmerken und stellte seine Fragen für den Augenblick hinten an. Doch er hatte andere Bedenken: »Ist das Risiko nicht zu groß?«, fragte er ernst. »Nach allem, was wir über die Entführer wissen, könnten sie Rachel ermordet haben. Ich hatte gehofft, dass dein Vater uns etwas über diese ganze Angelegenheit sagen könnte, doch ohne ihn haben wir nichts in der Hand. Wir sollten zur Polizei gehen.«
»Um ihnen zu erzählen, dass wir einen leibhaftigen Horus gesehen haben?«, fragte Penelope unwirsch zurück. »Und dass unser Dienstmädchen entführt wurde, damit wir ein Totenbuch herausgeben? Sie werden uns kein Wort glauben, Jules! Wir müssen jetzt gleich etwas unternehmen. Es ist ein weiter Weg nach Wainwood und uns läuft die Zeit davon.« Sie hatte nur eine nebulöse Vorstellung davon, wann im Mai morgens die Sonne aufging, doch es würde bereits in einigen Stun den sein. Der Gedanke, dass Jane niemanden sonst hatte, der ihr helfen konnte, während sich Charles Derrington und der Colonel irgendwo in London die Nacht um die Ohren schlugen, war unerträglich.
»Ich werde sie nicht im Stich lassen«, erklärte Penelope, obwohl ihr ganz schlecht vor Angst war. »Der Colonel hat Jane nach England geschickt, weil er um ihre Sicherheit fürchtete, und sie hat keine anderen Freunde hier, nur uns.«
Julian musterte sie mit einem Ausdruck ernster Sorge, doch endlich nickte er. »Aber wir gehen gemeinsam«, entschied er. »Wir lassen eine Nachricht zurück. Und wir brauchen das Totenbuch, denn sonst macht es keinen Sinn, uns alle in Gefahr zu bringen.«
»Es war nicht in seinem Gepäck«, warf Lord Nyles ein. »Weder als wir aus Ägypten kamen noch später, auf Wainwood.« Als ihn ihre überraschten Blicke trafen, besaß er den Anstand, verlegen auszusehen. »Auf unserer gemeinsamen Reise häuften sich denkwürdige Begebenheiten. Wir wurden verfolgt, waren aber nie in unmittelbarer Gefahr. Wir fanden immer wieder Falkenfedern, wie stumme Warnungen«, setzte er zu einer Erklärung an. »Sie steckten beim Frühstück in der Zeitung, beim Zubettgehen unter dem Kopfkissen und beim Auspacken in unseren Koffern. Jemand wollte uns zu verstehen geben, dass all unsere Schritte verfolgt wurden. Es war wie in einem Schauerroman. Der Colonel ließ nichts unversucht, um diese unsichtbaren Verfolger abzuhängen. Ich konnte ihm bei einigen seiner Manöver helfen, aber auch ich war neugierig. Ich wollte wissen, warum sie hinter ihm her waren. Also habe ich in seinen Sachen nach einem Hinweis gesucht. Das erste Mal auf der Reise, ein weiteres Mal während des Weihnachtsballs auf Wainwood.«
Die Art und Weise, wie er es vermied, Penelope anzusehen, verriet ihr überdeutlich, dass dies der Grund gewesen war, aus dem er in jener Nacht auf der Galerie gewesen war, anstatt im Ballsaal zu tanzen. Sie hatte immer weniger den Eindruck, dass er mit ihrer Schwester glücklich geworden wäre, denn Claire hielt rein gar nichts von Verfolgungsjagden oder Schauerromanen.
»Es ist auch nicht in seiner Wohnung«, fügte Julian hinzu, und niemand war überrascht, als er einräumte, dass auch er in den letzten Wochen die Gelegenheit genutzt hatte, um Colonel Felthams Habseligkeiten zu durchsuchen.
»Aber dann könnte er es überall versteckt haben«, meldete sich endlich Samuel zu Wort, der bisher geschwiegen hatte, wie es seinem Stand entsprach. »Er könnte es jemandem anvertraut oder irgendwo ein sicheres Versteck dafür gewählt haben. Vielleicht ist es nicht einmal in London.«
Penelope stimmte ihm insgeheim zu, aber da war noch etwas anderes. Eine Person, die sie bisher außer Acht gelassen hatte, obwohl sie vielleicht alles hätte erklären können. Doch letzten Endes war es nicht mehr als ein Verdacht. Wenn Penny sich irrte, würden sie die letzte Chance vergeuden,
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