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Wakolda (German Edition)

Wakolda (German Edition)

Titel: Wakolda (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucia Puenzo
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begreifen, dass sie beide noch keine erwachsenen Männer waren.
Wenn alle so sanfte Lämmer gewesen wären wie ihr, hätten sie uns alle abgeschlachtet
, hatte ihnen Cumín immer wieder vorgehalten. In dieser Nacht aber, als Lemún die Karikatur eines Indianers mit Lendenschurz und Federschmuck betrachtete, der mit Tränen in den Augen vor dem niedergebrannten Lager stand wie ein Unglücksvogel, spürte er die Wut in sich aufsteigen, von der Cumín gesprochen hatte.
    »Na gut, ich leih dir den Comic«, sagte Tomás unsicher. »Krieg ich ihn dann morgen wieder?«
    »Nein. Den behalte ich.«
    »Meinetwegen. Ich schenk ihn dir.«
    Er trat einen Schritt zurück und wollte sich gerade auf einer der beiden leeren Pritschen niederlassen, als Nahuel dazwischenfuhr.
    »Da schlafen wir.«
    »Ach so, und wo ...?«
    »Da.«
    Er wies auf das schmale Bett, auf dem sich Tomás’ übrige Familie drängte. Tomás nickte resigniert, hockte sich auf die Bettkante, lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. Er konnte es kaum erwarten, dass es hell wurde. Nahuel betrachtete ihn noch eine Weile, dann holte er sein Schnitzmesser und ein längliches Stück Holz hervor, das sich unter seinen Händen immer mehr in eine Schlange verwandelte. Hin und wieder sah er zu Tomás hinüber, zielte mit dem Messer auf seine Stirn und maß die Wurfentfernung ab. Er biss sich auf die Lippen und sah seinen Bruder an, der noch immer das Comic-Heft studierte.
    »Besser, du verbrennst das Ding.«
    »Ich bin doch nicht verrückt.«
    »Wenn Cumín das findet ...«
    »Findet er aber nicht.«
    »Die kommen hier nicht mehr heil raus, wenn er das sieht.«
    »Er wird das Heft aber nicht zu sehen bekommen«, wiederholte Lemún. »Du wirst nämlich schön den Mund halten.«
    Als sich die Gemüter der Brüder zu erhitzen begannen, war José bereits dabei, seine Arbeitsinstrumente sorgfältig im Köfferchen zu verstauen. Lilith stand strahlend mit Herlitzka im Arm daneben und bewunderte ein ums andere Mal die feine Silbernaht auf der weißen Binde, die beinahe aussah wie ein hübscher kleiner Fesselstützverband.
    »Können Sie mir das auch beibringen?«
    »Was meinst du?«
    »Na das, was Sie da gemacht haben.«
    »Meinst du das Nähen?«
    »Ja.«
    »Für heute ist es aber schon zu spät ...«
    »Dann eben in Bariloche.«
    »Ich weiß nicht, ob wir uns in Bariloche noch sehen werden ...«
    »Werden wir«, sagte Lilith.
    José schloss lächelnd seinen Koffer.
    »Na, dann vielleicht schon.«
    »Versprochen?«
    »Wenn der Schüler bereit ist, erscheint der Meister.«
    »Ich bin bereit.«
    Erstaunt über die Heftigkeit, mit der sie jedes einzelne Wort aussprach, schaute er Lilith ins Gesicht. Er war überzeugt davon, dass ihre Begegnung eine ganz besondere, beinahe magische Fügung war, eine erhabene Zufälligkeit, wie Nietzsche sagen würde. Aber nicht aus den Gründen, um die es Lilith ging.
    »Ich könnte ihr den anderen Fuß auch noch abreißen.«
    »Was sagst du?«
    »Herlitzka. Ich könnte ihr den anderen Fuß auch noch abschneiden, oder eine Hand ...«
    »Aber wozu denn bloß?«, fragte José verwundert.
    »Dann können wir sie wieder annähen.«
    Vor ihm, nur wenige Zentimeter von ihm getrennt, stand seine Seelenverwandte und sah lächelnd zu ihm auf. So grotesk und bezaubernd war sie, dass er den Impuls, ihr einen Klecks Kleister von der Wange zu wischen, nicht unterdrücken konnte.
    »Mal sehen. Aber jetzt geh schlafen.«
    Er zeigte auf die einzige noch freie Pritsche im Raum.
    »Und was ist mit Ihnen ... ?«
    »Ich kann hier im Sitzen schlafen. Nun leg dich schon hin.«
    Achselzuckend legte sich Lilith auf das Bett neben Yanka und starrte mit ernster Miene zu José hinüber; sie war überzeugt, dass sich dieser Mann, der einfach aus dem Nichts aufgetaucht war, in Luft auflösen würde, sobald sie die Augen schloss. José blies die letzte Kerze aus. Er setzte den Hut auf, ließ ihn über die Augen rutschen und lehnte sich gegen die Wand. Es hatte jetzt aufgehört zu regnen, ein eisiger Wind pfiff ums Haus, rüttelte an den Wänden und zog das Gewitter endlich nach Norden mit sich fort.
    Eine Stunde später, als alle schliefen, war Lilith immer noch wach. Wieder und wieder streichelte sie Herlitzkas vernähte Ferse, fuhr mit dem Finger über die feine Drahtnaht. Trotz der Dunkelheit entging ihr nicht, wie sich Yanka über den Bauch strich.
    »Schläfst du?«, flüsterte sie.
    »Nein.«
    Sie schwiegen. Lilith konnte Yankas Unruhe förmlich spüren.
    »Was

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