Wald
Bruder auf einer kleinen Lichtung über den Weg. Envin rennt genau auf ihn zu, sieht ihn zuerst gar nicht und reißt ihn zu Boden.
»Bist Du verrückt geworden, Envin!«
»Der Drache --- ich glaube, ich habe den Drachen gesehen. Wir müssen fliehen.«
Sidus schiebt Envin zur Seite und erhebt sich, das Schwert kampfbereit von sich gestreckt.
»Wo ist das Teufelsbiest?«
»Ich weiß nicht --- ich ---«
Sidus sieht sich um.
»Wie sah er aus? Wie lang sind seine Reißzähne?«
»Ich --- ich --- weiß nicht.«
Envin erhebt keuchend seinen geschundenen Körper.
»Und, hat er Feuer gespuckt?«
»--- weiß nicht ---«
Envin stützt sich an einem Baum ab. Sidus dreht sich zu ihm.
»Ich dachte, Du hast ihn gesehen? Oder wolltest Du nur einen Scherz mit mir treiben?«
»Gesehen? Ich meinte, ich habe ihn gespürt. Er war da, ganz sicher.«
»Envin, Envin«, Sidus schüttelt seinen breiten Kopf.
»Wie kannst Du ihn spüren, wenn Du ihn nicht siehst? Vielleicht war da nur eine Maus im Gebüsch und Du machst gleich so ein Theater.«
»Eine Maus war es ganz sicher nicht!«, widerspricht Envin, so energisch, wie es ihm in seiner Rolle als kleiner Bruder möglich ist.
»Dann war es eben ein Wildschwein, na und.«
»Sidus, der Drache war da!«
»Ich habe nichts gesehen oder gehört und auch nichts gespürt. Wie hätte sich das Monstrum denn vor mir verstecken können?«
Envin sieht ihn wortlos an, noch immer zittert er, da ihm der Schreck tief in den Gliedern steckt.
»Du hättest dich besser um die Pferde sorgen sollen, anstatt mit irgendwelchen Gespenstern fangen zu spielen.«
»Aber ich bin doch meinem Ross hinterhergerannt! Außerdem --- ich glaube, die Pferde wurden unruhig, weil der Drache in der Nähe war.«
»Envin«, Sidus stößt einen langgezogenen Seufzer aus. »Du weißt, dass ich der Erste wäre, der vor Freude in die Luft springen würde, wenn wir den Drachen endlich finden. Aber bis jetzt haben wir keine Spur von ihm entdeckt, wir sind weit gereist und sehr erschöpft, die Pferde sind uns gerade durchgegangen«, er steckt sein Schwert zurück in die Scheide. »So sehr es mich auch in Verzückung bringen würde, hier ist kein Drache weit und breit. Also lass uns zurück zu unserem Lagerplatz gehen, die verbliebene Ausrüstung kontrollieren und dann noch ein paar Stunden Schlaf finden. Wir werden die Ruhe nötig haben, wenn wir morgen früh zu Fuß weiterziehen müssen.«
Sidus läuft los. Envin folgt ihm, sein Schwert fest umklammert und sieht sich vorsichtig um. Egal was sein Bruder denkt, er weiß, dass er etwas Bösartigem gegenübergestanden hat. Und ob es nun Geist oder Drache war, beide Möglichkeiten sind ebenso wenig verlockend für ihn.
»Tag«
Ein neuer Tag ist hereingebrochen und die beiden Krieger ziehen zu Fuß durch einen unwegsamen Mischwald. Die Satteltaschen haben sie über ihre Schultern geworfen, meterhohes Gestrüpp und morsches Holz, das überall wie Mauerwerk umherliegt, erschwert ihren Weg. Sidus denkt sich, dass es gar nicht so schlimm ist, die Pferde verloren zu haben, da das Gebiet immer unwegsamer wird und man selbst zu Fuß kaum vorankommt. Er pfeift ein fröhliches Lied und wirft sich alle paar Meter eine Haselnuss in den Mund. Die Sonne scheint und nichts kann ihn daran hindern, die ehrenvolle Drachenjagd zu genießen.
Envin schleicht seinem Bruder sorgenbeladen hinterher. Das Gewicht des Gepäcks und die Unhandlichkeit der Lanze, mit der er sich immer wieder das rechte Bein stößt, machen ihm zu schaffen.
»Dir scheint es wohl überhaupt nichts auszumachen, dass wir den ganzen Weg zu Fuß beschreiten müssen?«, ruft er dem singenden Sidus hinterher.
»Ach Envin, bläst Du schon wieder Trübsal? Mit solch einer Einstellung wirst Du es nie zum Protagonisten in einem Heldenlied schaffen. Dabei liegt der ganze Spaß doch noch vor uns! Wenn wir dem Drachen gegenüberstehen, dann wird es doch erst spannend.«
Im Laufen dreht er sich zu Envin um.
»Oh, Entschuldigung. Ich vergaß, dass Du den Drachen ja bereits gesehen hast, haha ---«
Das Lachen bleibt ihm im Halse stecken, da er mit dem rechten Fuß in einem Erdloch hängen bleibt und sich den Knöchel umknickt. Im weiteren Verlauf des Vormittags humpeln beide Drachenjäger.
Am frühen Nachmittag verdunkelt sich der Himmel innerhalb weniger Minuten und ein unheilschwangeres Gewitter zieht auf. Der Regen erweckt das ausgetrocknete Flussbett, in dem die Ritter entlangziehen, zu neuem Leben. Bevor sie im
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