Waldesruh
Ultimatum abgelaufen, gut möglich. Hat er gewusst, dass Frau Holtkamp tot ist? Nicht mit Sicherheit, aber zumindest muss er beobachtet haben, dass sie nicht da ist, überlegte Emily. In Gegenwart von Frau Holtkamp hätte er diese Obdachlosen-Nummer ja nicht abziehen können. Spätestens nach diesem Besuch ist ihm klar, dass etwas nicht stimmt. Er ruft an, Janna meldet sich mit verstellter Stimme. Vielleicht durchschaut er ihren Telefontrick, vielleicht denkt er aber auch, Frau Holtkamp sei wieder da. Jedenfalls stellt er erneut ein Ultimatum. Tage vergehen, die Frist verstreicht, nichts passiert. Er weiß nicht, was los ist, und will noch einmal ins Haus und nach dem Bild suchen. Er beobachtet das Haus – vielleicht sogar vom Baumhaus aus – und wartet auf eine Gelegenheit. Aber die kommt nicht, denn einer von uns ist immer hier. Also bricht er nachts ins Haus ein...
So weit, so gut. Doch es blieben noch so viele Fragen offen: Wer war dieser Mann, dessen Leiche Marie und Janna gerade vergruben? Und um was für ein Bild ging es, wie wertvoll mochte es sein? Woher hatte Frau Holtkamp es, gehörte es ihr, hatte sie es selbst gestohlen? Aber die wichtigste Frage lautete: Wo zum Teufel war dieses Bild?
Janna stand vor dem Spiegel. Sie hatte ihr Haar hochgesteckt, die Augen stark geschminkt und die Lippen bemalt. Dazu trug sie einen engen, kurzen Rock, einen Blazer und hochhackige Schuhe. »Sehe ich erwachsen aus?«
»Ich finde schon«, sagte Emily.
»Du könntest beim Grand Prix für Georgien oder die Ukraine antreten«, lautete Maries Kommentar zur Aufmachung ihrer Schwester.
Janna verdrehte die Augen, dieselte sich mit einem süßlich riechenden Parfum ein und stöckelte davon. Sie schloss das Garagentor auf und setzte sich hinter das Steuer des schwarzen Golf.
»Viel Erfolg«, wünschte Emily. »Und keine Polizeikontrolle.« Etwas ruckartig fuhr Janna an, würgte zweimal den Motor ab, aber die Kurve in den Feldweg nahm sie schon recht flüssig.
»Wenn das mal gut geht«, murmelte Marie.
»Wo hat sie Autofahren gelernt?«, wollte Emily wissen, als der Leihwagen außer Sicht war.
»Frag lieber nicht«, sagte Marie, erklärte aber dann: »Ein Ex-freund von ihr musste mal in den Knast, weil er immer wieder Autos geklaut hatte.«
Auch Emily zog es vor, dieses Thema nicht zu vertiefen, aber sie fragte Marie: »Was meintest du vorhin mit: beim Grand Prix auftreten?«
»Dass sie aussieht wie eine osteuropäische Edelprostituierte.«
Emily schüttelte den Kopf. »Wer dich zur Schwester hat, der braucht wirklich keine Feinde mehr.«
Nach dem Abendessen setzten sie Moritz vor den Fernseher, wo CSI Miami lief, was Moritz zwar nur ansatzweise verstand, aber trotzdem liebte, seitdem Frau Holtkamps strikte Fernsehregeln gelockert worden waren.
Marie und Emily saßen in der Küche, als Janna endlich zurückkam. Sie sah völlig erschöpft aus.
»Wo hast du das Auto stehen lassen?«, erkundigte sich Marie.
»In der Nähe der S-Bahn-Station Hannover-Linden.« Janna goss sich ein Glas Wasser ein und trank es in einem Zug aus. »Ich wollte es nicht riskieren, bis in die Innenstadt zu fahren. Am Ende wäre noch irgendein Idiot in mich reingekracht und wir hätten die Bescherung gehabt.«
»Aber warum hast du so ewig gebraucht?« Emily sah auf die Uhr. Janna war über vier Stunden weg gewesen. Sie hatten sich richtig Sorgen gemacht.
»Ich war in seinem Hotelzimmer«, sagte Janna und hielt die Schlüsselkarte vom Maritim, die Marie gefunden hatte, triumphierend in die Höhe. »Ich wollte nachsehen, ob dort noch irgendwelche Hinweise rumliegen, die zu uns führen könnten. Und rauskriegen, wer er war.«
Marie starrte sie an und für einen Moment stahl sich so etwas wie Bewunderung für ihre ältere Schwester in ihr Gesicht.
»Und du bist so ohne Weiteres in das Hotelzimmer reingekommen?«, wollte Emily nun wissen.
»Ja, klar.«
»Wie hast du sein Zimmer gefunden? Es stand doch keine Nummer auf der Karte, oder?«
»Ich habe einfach alle Türen durchprobiert«, erwiderte Janna schlicht.
»Du lieber Himmel!«
»Immer wenn der Flur leer war, habe ich probiert. Einmal wollte mir ein Gast sogar helfen, da habe ich so getan, als hätte ich mich im Stockwerk geirrt. Zum Glück kann ich ja ein wenig schauspielern«, stellte Janna fest und warf eitel ihr Haar zurück. »Bei der dreißigsten oder so hat es dann geklappt.«
»Und hast du was gefunden?«, fragte Emily.
Marie nickte ungeduldig. »Zeig schon her!«
Janna legte
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