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Waldos Lied (German Edition)

Waldos Lied (German Edition)

Titel: Waldos Lied (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Gabriel
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greifen. Die Gesichter der Männer verrieten äußerste Anspannung. Sie wussten, dass sie mit den nächsten Worten Rudolfs eine Grenze überschreiten würden, von der es vielleicht kein Zurück mehr gab.
    Rudolf ließ sich Zeit. Er ließ sie warten. Da, endlich, fuhr der Herzog von Schwaben fort, und ein Aufstöhnen ging durch die Reihen der Männer. Er wies mit der Hand auf die Fürsten der Sachsen. »Ihr, meine Freunde, habt die schwerste aller Aufgaben. Doch ich weiß, dass ihr sie meistern werdet. Unterwerft euch, kriecht zum Schein vor ihm im Staub. Glaubt er euch, dann lockt ihn mit Versprechungen in euer Land und dann — lasst ihn bluten und leiden, wie er euch bluten und leiden ließ. Er ist gierig und wird euch folgen.«
    Wieder machte Rudolf eine Pause, doch dieses Mal war sie nur kurz. So, als wolle er niemandem Gelegenheit geben, über das Ungeheuerliche nachzudenken, was er eben gehört hatte. Er hätte sich darum keine Gedanken machen müssen. Die Männer hingen an seinen Lippen.
    Rudolf sprach jetzt mit erhobener Stimme weiter. »Dann wollen wir einen neuen König wählen, einen würdigen König. Einen, der unsere Ehre, unsere Freiheit, unsere Familien und unser Land schützt und der gerecht ist. Ein König, der für die Ehre Gottes in dieser Welt kämpft. Möge der Allmächtige diesen Kampf segnen.«
    Da brach gewaltiger Jubel los, und jeder der Fürsten forderte Rudolf auf, sich zum neuen König wählen zu lassen. Doch der Herzog lächelte nur. Und lehnte ab. Daraufhin beschlossen sie, genau das zu tun, was er vorgeschlagen hatte.
    Es gab unter den Fürsten nur einen, der unzufrieden war, denn auch er hatte gehofft, König zu werden: der Sachse Otto von Northeim, einst Herzog von Baiern.
    Später, im Zelt, lächelte Rudolf mir triumphierend zu. »Und, Waldo von St. Blasien, bist du zufrieden mit mir? Wie habe ich das gemacht?«
    »Wie ein König«, erwiderte ich. Ich zeigte ihm mein Unbehagen nicht. Am nächsten Tag brachen wir zusammen mit den anderen Fürsten zum König nach Würzburg auf. Heinrich nahm die Nachricht von der Unterwerfung der Sachsen auf; als hätte er nichts anderes erwartet.
    Am letzten Abend in Gerstungen hatte sich noch etwas sehr Seltsames ereignet. Ich hatte mir wieder einmal einen Platz zum Schlafen ein wenig außerhalb des Lagers gesucht. Für etwas Ruhe und Einsamkeit nahm ich es gern in Kauf, mich der Nachtluft auszusetzen, die jetzt im Oktober schon empfindlich kalt war. Doch ich hatte ein Feuer, das mich wärmte. Und so blickte ich in die Sterne und hing meinen Gedanken nach. Ich lag auf dem Rücken, die Hände hinter dem Nacken verschränkt, warm in Pelze eingepackt, neben einem Gebüsch von Haselnusssträuchern. Da drang plötzlich eine Stimme an mein Ohr — mit jenem Flüstern, das in der Stille der Nacht manchmal weiter trägt als das lauteste Geräusch. Am Anfang glaubte ich, es mir eingebildet zu haben. Es waren nur wenige Worte, so schnell verweht wie der Ruf eines Vogels. Sie lauteten: »Komm zum Kreuz, wenn dir dein Leben lieb ist.«
    Verstört sprang ich auf und suchte fieberhaft die gesamte Umgebung meines Lagers ab. Ich hatte für den Rest meines Lebens genug von Leuten, die mich umbringen wollten. Doch obwohl es nicht viele Möglichkeiten gab, sich zu verstecken, fand ich niemanden. Es war unheimlich.
    Nach einer Stunde gab ich die Suche auf und legte mich wieder hin, doch lag ich wach bis fast zum Morgengrauen.
    Ich war in meinem Leben wahrhaftig schon in gefährlichen Situationen gewesen. Aber keine hatte mir jemals zuvor einen solchen Schrecken eingejagt. Bei jedem Geräusch, das der Wind machte, fuhr ich hoch und dachte, der Fremde sei zurückgekehrt. Dann wieder glaubte ich, mein Verstand habe mir alles nur vorgegaukelt.
    Und gleich darauf fürchtete ich, der Teufel habe einen seiner Dämonen aus der Hölle geschickt, um mich zu quälen. Ich erinnerte mich plötzlich an einen Hintersassen in einem Kloster, der sich von einem Augenblick zum anderen in wilden Zuckungen auf dem Boden gewunden hatte. Der Gequälte stieß Laute aus wie ein Tier. Sein Körper zog sich unter Krämpfen zu den wildesten Verrenkungen zusammen. Seine Arme und Beine waren so hart wie Stein. Die Mönche hatten den Tobenden in ihrer Hilflosigkeit schließlich in die Kirche gebracht und ihn unter das Kreuz gelegt. Da waren die Zuckungen langsam weniger geworden. Und als der Bauer sich schließlich beruhigte, erwachte er wie aus einem tiefen Schlaf. Er erinnerte sich an nichts mehr.

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