Walhall. Germanische Goetter- und Heldensagen
verkündend und Fruchtbarkeit und Wachstum spendend, über die Länder hinbraust; er ist der Anführer des wütenden Heeres (Wuotis-, auch Muotisheer), der wilden Jagd. Jene Naturgrundlage dieser Sagen und Glaubensgebilde ist zweifellos; gerade in den "zwölf Nächten" von Weihnachten bis zum Tage der heiligen drei Könige – also in der Zeit der Winter-Sonnenwende – "jagt Wotan im Walde die Holzweiblein", d. h. der Sturm knickt die von weiblichen Wesen beseelt gedachten Bäume. In dieser Zeit hielten wohltätige Mächte ihren segnenden Umgang durch die Gaue; es sind die Lichtgötter selbst, die Asen, an ihrer Spitze ihr König und die Königin, welche zu der Zeit, da das Licht auf Erden am schwächsten gewesen (also etwa November und in den ersten Wochen des Dezembers), Midgard verlassen und sich nach Asgard zurückgezogen hatten, nun aber bei zunehmendem Tageslicht [Fußnote: Insofern ist Wotan auch ein Frühlingsgott; er berührt sich hier mit Freyr oder Baldur-Sigurd-Siegfried und tötet, wie dieser, den Winterdrachen durch Speeresstoss von seinem weissen Ross herab; während Sankt Georg oder Sankt Michael an Stelle Freyr-Baldurs getreten, hat Sankt Martinus, ein kriegerischer Heiliger, dessen Mantel (Kappa) den französischen Königen in der Schlacht nachgetragen wurde, eben diesen Mantel, dass Ross und Schwert mit Odin gemein.] wieder ihren Einzug halten; im Mittelalter, da die Götter zu Teufeln geworden, glaubte man daher folgerichtig, dass um diese Zeit die bösen Geister volle Freiheit und Macht gewinnen, auf Erden zu schalten und zu walten.
Aber obwohl es nun der Teufel ist, der das wilde Heer durch die Lüfte führt, gilt es doch als Vorzeichen grosser Fruchtbarkeit des Jahres, wenn man in jenen Nächten das "Muotis-Heer" recht laut ertosen hört – eine Erinnerung an die alte wohltätige [Fußnote: Daher auch der Zug, dass, während im allgemeinen die Menschen das wilde Gejaid zu fürchten haben, manchmal der Wildjäger reiche Gaben für geringe Dienste (z. B. für Halten seiner Hunde, Füttern seines Pferdes) spendet; auch dass es Schutz vor ihm gewährt, wenn man sich auf Pflug und Egge setzt, erinnert an die alte, dem Ackerbau freundliche Gesinnung der Umziehenden; der Kreuzweg oder ein Baumstumpf mit einem eingeschnittenen Kreuz gewährt dagegen als Symbol des Christentums Schutz wider die Teufel, d. h. die alten Heidengötter der Luft. Wer freilich frech in ihr Hallo!-rufen einstimmt, der muss zur Strafe mitjagen; er wird emporgewirbelt, mit durch die Luft gerissen, halbtot, wahnsinnig, weit von seinem Weg ab niedergelassen; und wer sich einen Beuteanteil ausbittet, dem fällt wohl eine blutige Menschenlende auf den Kopf; denn die Jäger des Muotisheeres sind Krieger, welche Menschen erjagen.] Bedeutung dieser Mitte; deshalb, d. h. wegen der Spendung der Fruchtbarkeit, sind unter der wilden Jagd auch so viele weibliche Gestalten. Im Mittelalter sind im wütenden Heer freilich nicht mehr Götter und Göttinnen, sondern Verbrecher, Selbstmörder, Meineidige, Sonntagschänder, Wildschützen, namentlich auch leidenschaftliche Jäger, welche statt der himmlischen Seligkeit ewige Jagdfreuden sich gewünscht haben.
Es ist auffallend, dass, während doch Jagd neben Krieg eine Hauptbeschäftigung, ja eine Hauptleidenschaft der Germanen war, eine besondere Jagdgottheit, der Artemis-Diana entsprechend, bei ihnen nicht bezeugt ist (abgesehen von Ullr, dem winterlichen Jäger); vielleicht war Wotan als Führer der Jagd durch die Luft auch Gott der Jagd auf Erden.
Aber oft ist es nicht ein Jagdzug, sondern ein Heer von Kriegern, was Wotan durch die Lüfte leitet. Dann führt er die Götter und die Einheriar aus Walhall (oder "aus dem hohlen Berge") zum Kampfe gegen die Riesen, und es berührt sich hier die Sage mit der oben erörterten von dem errettenden Heere, welches von Karl dem Grossen oder von dem Rotbart im Augenblicke grösster Bedrängnis des deutschen Volks aus dem Berge zur Hilfe herausgeführt wird; hört man das wütende Heer, sieht man etwa gar in den Wolken Gewaffnete dahinjagen, so bedeutet dies den baldigen Ausbruch grossen Kriegs [Fußnote: Die Namen und die Abstufungen der Sage sind landschaftlich sehr verschieden; der Rodensteiner (der Schnellertsgeist), der Dürst, der Hackelbärand (d. h. hökul-barand, der Mantelträger = Odin), der Helljäger, der Wote. Ausser den beiden grossen Kaisern werden wohl auch König Artus, König Waldemar, Roland, der treue Eckart, Dietrich von Bern
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