Wall Street Blues
Georgette Klinger natürlich nie selbst telefonierte, um Termine zu bestätigen. Jede, die anrief, meldete sich stets als Georgette Klinger.
»Ich muß den Termin absagen, wenn ich im Büro bin.«
»Siehst du toll aus in deiner Uniform«, sagte Carlos gehässig eine Hüfte vorgereckt und mit den Händen gestikulierend.
»Ach, sei still. Und nimm das Telefon nicht ab.« Sie legte die Times und das Journal in einen Einkaufsbeutel von Blooming, dale’s. Ihre Aktentasche war noch im Büro.
»Keine Sorge, Schatz, halt mich nur auf dem laufenden.« £r gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Und paß auf dich auf«, sagte er sehr ernst. »Du weißt, es sind nicht mehr sehr viele von uns übrig.«
»Ich weiß«, sagte sie genauso ernst, indem sie die Tür hinter sich zuzog. »Ich weiß.«
Sie verließ wachsam den Aufzug und war fast etwas enttäuscht, als niemand zu sehen war außer Larry, dem Portier, der auf dem Sofa in der Halle saß, die Füße fest auf den Marmorboden gepflanzt, rauchte und die Renntips las.
»Morgen, Miss Wetzon«, nuschelte er, ohne aufzustehen. Er stand kurz vor der Rente und beschränkte deshalb seine Bemühungen auf ein Minimum. »Draußen wartet eine Dame auf Sie.«
»Wo?« Sie spähte durch die Haustür.
»Lehnt dort an dem Auto in der zweiten Reihe...«
Ja, eine Frau in brauner Hose und brauner Tweedjacke. »Danke, Larry.«
Sie ging schnell durch die Tür, ohne hinzusehen.
»Miss Wetzon, kann ich Sie kurz sprechen?«
Sie überhörte den Ruf und trat auf die Straße, um einem Taxi zu winken. Mehrere fuhren vorbei, alle besetzt. Sie stöhnte und ließ den schmerzenden Arm hängen. Um diese Zeit an der Upper West Side ein freies Taxi zu finden war immer schwierig. Die Frau kam und stellte sich neben sie.
»Ich bin beim Wall Street Insider. Julie Davidson. Ich möchte gern mit Ihnen sprechen.« Sie drängte nicht. Sie sagte es einfach so. Kein Druck.
Wetzon wandte sich um und sah sie an. Sie hatte ein freundliches Gesicht, übersät mit Sommersprossen, dickes, blondiertes Haar 'n einer altmodischen Welle. Eine kompakte Figur in der braunen Hose und Jacke. Sie war etwas älter, als sie auf den ersten Blick wirkte.
»Worüber?« fragte Wetzon so kalt sie konnte.
Julie Davidson sah sie leicht amüsiert an. »Über den Mord an Barry Stark.«
Wetzon nickte etwas milder gestimmt. »Ich kann nicht darüber reden. Die Polizei hat mich gebeten, nichts zu sagen.«
»Vielleicht werden Sie irgendwann reden können, und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir ein wenig Zeit opfern würden.« Julie Davidson hielt ihr eine Karte hin.
»Okay.« Wetzon steckte die Karte automatisch in die Tasche zu dem Schlüssel. Dann nahm sie die Karte schnell heraus, verstaute sie in der Handtasche und fühlte in der Tasche nach dem Schlüssel. Er war noch da.
Es war viel später als ihre gewöhnliche Bürozeit, und sie sah, daß Suger Joe seine Zelte schon abgebrochen und seinen Platz an der Ecke der Amsterdam Avenue nahe dem Buswartehäuschen verlassen hatte.
Vor vielen Monaten hatte sie zum erstenmal den Neuzugang im Viertel nahe dem Wartehäuschen an der Amsterdam und 86. Street bemerkt, den Neuzugang in Form eines Abfallhaufens, der mit einer mittelblauen Wolldecke mit dem Aufdruck made in England exclusively for Bloomingdale’s bedeckt war. Zuerst hatte sie überlegt, warum wohl jemand Abfall so zudeckte, dann hatte sie zu ihrem Entsetzen gemerkt, daß unter dem länglichen Haufen etwas Lebendes war. Es stand sogar ein Pappbecher mit Kaffee am einen Ende. Dem Kopfende? Ein zusammenlegbares Gepäckwägelchen lag auf dem Boden wie ein Kissen, vermutlich wo der Kopf unter der Decke war.
Das Individuum, das sich als ein Mann unbestimmbaren Alters, vielleicht Mitte Fünfzig oder älter, entpuppt hatte, wurde sofort zum festen Inventar des Viertels. Die meisten Leute in der Gegend, einschließlich Wetzon hatten ihn noch nie gesehen. Doch diejenigen, die versucht hatten, ihn in einem städtischen Asyl unterzubringen, beschrieben ihn als groß und sehr dünn, mit schulterlangem weißem Haar. Er mochte weder die städtischen Einrichtungen noch die Wohltäter. Er war immer sehr schnell wieder auf der Straße. Anscheinend ging er tagsüber irgendwohin, aber er war jeden Abend zur Stelle, und er war sehr früh morgens da, denn zu diesen Zeiten hatte sie ihn gesehen. Er kehrte immer wieder an denselben Fleck zurück.
Wetzon malte sich inzwischen aus, er sei Börsenmakler. Vielleicht ging er tags in sein Büro
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