Wallander 03 - Die weisse Löwin
einer Kirche in Riga verbracht hatte. Aber er sagte nichts. Er mußte sich jetzt konzentrieren.
Pastor Tureson war ein älterer Mann, groß und stark, mit buschigen weißen Haaren. Wallander spürte einen kräftigen Händedruck, als sie sich begrüßten.
Der Kirchenraum war einfach. Wallander hatte nicht das erdrückende Gefühl, das ihn in Kirchen oft überfiel. Sie setzten sich auf Sprossenstühle, die vorn am Altartisch standen.
»Ich habe Robert vor einigen Stunden angerufen«, sagte Pastor Tureson. »Armer Mann, er ist ganz verstört. Haben Sie sie immer noch nicht gefunden?«
»Nein«, antwortete Wallander.
»Ich verstehe nicht, was da geschehen sein kann. Es war nicht Louises Art, sich Gefahren auszusetzen.«
»Manchmal ist es nicht zu vermeiden«, sagte Wallander.
»Was meinen Sie damit?«
»Es gibt zwei Sorten von Gefahren. Der einen setzt man sich aus. Der anderen ist man ausgesetzt. Das ist nicht dasselbe.«
Der Pastor machte eine hilflose Handbewegung. Seine Unruhe wirkte echt, sein Mitgefühl mit dem Mann und den Töchtern aufrichtig.
»Erzählen Sie von ihr«, sagte Wallander. »Wie war sie? Kennen Sie sie schon lange? Wie war die Familie Åkerblom?«
Pastor Tureson sah Wallander ernst an. »Sie stellen mir Fragen, als ob alles vorbei wäre.«
»Das ist eine schlechte Angewohnheit«, entschuldigte sich Wallander. »Ich meine natürlich, daß Sie mir erzählen sollen, wie sie ist.«
|52| »Ich bin jetzt seit fünf Jahren Pastor dieser Gemeinde«, begann Tureson. »Wie Sie hören können, komme ich ursprünglich aus Göteborg. Die Familie Åkerblom ist die ganze Zeit über Mitglied dieser Kirche gewesen. Beide stammen aus Methodistenfamilien, sie haben sich durch die Kirche getroffen. Und nun lassen sie ihre Kinder im rechten Glauben heranwachsen. Robert und Louise sind tüchtige Menschen. Arbeitsam, sparsam, großzügig. Es ist schwer, sie auf andere Art zu beschreiben. Es ist überhaupt schwer, von ihnen als einzelnen Personen zu sprechen. Sie gehören zusammen. Die Gemeindemitglieder sind bestürzt darüber, daß Louise verschwunden ist. Das fühlte ich bei unserer gemeinsamen Fürbitte gestern.«
Die perfekte Familie. Kein Riß in der Mauer, dachte Wallander. Ich kann mit tausend Leuten sprechen, und alle werden mir dasselbe erzählen. Louise Åkerblom hat keine Schwächen, absolut keine. Die einzige Besonderheit: Sie ist verschwunden. Da stimmt etwas nicht. Nichts stimmt.
»Woran denken Sie, Herr Kommissar?« fragte Pastor Tureson.
»Ich denke an Schwäche«, antwortete Wallander. »Ist es nicht ein grundlegender Zug in allen Religionen? Daß Gott uns helfen wird, unsere Schwäche zu überwinden?«
»Ganz recht.«
»Mir scheint es nun aber, als habe Louise Åkerblom keine Schwächen gehabt. Ihr Bild ist so perfekt, daß ich beinahe mißtrauisch werde. Gibt es wirklich Menschen, die so durch und durch gut sind?«
»Louise ist ein solcher Mensch«, erwiderte Pastor Tureson.
»Sie gleicht beinahe einem Engel?«
»Nicht richtig«, sagte Pastor Tureson. »Ich erinnere mich, daß sie einmal Kaffee für den Gemeindeabend kochte. Sie verbrühte sich die Finger. Ich hörte sie tatsächlich fluchen.«
Wallander versuchte es noch einmal. »Es ist unmöglich, daß es zwischen ihr und ihrem Mann ein Zerwürfnis gab?«
»Absolut unmöglich«, antwortete Pastor Tureson.
»Kein anderer Mann?«
»Natürlich nicht. Ich hoffe, Sie stellen diese Frage nicht Robert.«
|53| »Kann sie von religiösen Zweifeln geplagt sein?«
»Das halte ich für ganz ausgeschlossen. Davon hätte ich gewußt.«
»Kann sie einen Grund gehabt haben, Selbstmord zu begehen?«
»Nein.«
»Kann eine akute Sinnesverwirrung sie ergriffen haben?«
»Warum? Sie ist ein durch und durch ausgeglichener Mensch.«
»Fast alle Menschen haben Geheimnisse«, sagte Wallander nach einer Pause. »Können Sie sich vorstellen, daß Louise Åkerblom ein Geheimnis hat, das sie mit niemandem teilt, nicht einmal mit ihrem Mann?«
Pastor Tureson schüttelte den Kopf. »Gewiß, alle Menschen haben Geheimnisse«, antwortete er. »Oft sehr dunkle Geheimnisse. Aber ich bin überzeugt davon, daß Louise keines hat, das sie dazu bringen könnte, ihre Familie zu verlassen und diese ganze Unruhe auszulösen.«
Wallander hatte keine Fragen mehr.
Es stimmt nicht, dachte er wieder. Etwas an diesem perfekten Bild stimmt nicht.
Er erhob sich und dankte Pastor Tureson. »Ich werde mit den anderen Gemeindemitgliedern sprechen. Falls Louise nicht
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